Das Herz des Bösen: Roman (German Edition)
sich zu erklären. »Zur Verstärkung, weißt du.«
»Ich bin sicher, wir treffen ein paar Ranger bei Tylers Wagen«, sagte Val, dankbar, dass ihre Freunde sich von ihrer Loyalität und nicht dem gesunden Menschenverstand hatten leiten lassen. Sie hielten sie garantiert für leichtsinnig und unvernünftig, fanden, dass sie blindlings und planlos losrannte, ohne eine Ahnung, wohin sie wollte und was sie tun würde, wenn sie dort ankam. Und Val wusste auch, dass ihre Freunde vollkommen recht hatten. Trotzdem konnte sie nicht einfach rumsitzen und nichts tun, während ihre Tochter möglicherweise in Gefahr war. Rumzusitzen und darauf zu warten, dass etwas geschah, hatte sie absolut nirgendwohin gebracht.
Trotzdem …
Sie sollte vermutlich auf ihre Freunde hören, kehrtmachen, zurück zum Zeltplatz fahren, Mike Jones anrufen und ihm berichten, dass Jennifer sich daran erinnert hatte, dass der Mann, der sich als Henry Voight ausgab, angeblich ein Häuschen in der Gegend hatte. Aber die Ranger grasten bestimmt längst sämtliche Häuser und Hütten in der Umgebung ab, dachte sie im nächsten Moment, und außerdem hatte der Mann, wenn er sich schon fälschlicherweise als Ranger ausgegeben hatte, wahrscheinlich auch gelogen, was das Haus in der Nähe betraf. Wenn es selbiges jedoch tatsächlich gab, wäre es zweifelsohne klüger, wenn Profis der Sache nachgingen und nicht ein Haufen Laien, die herumrannten wie kopflose Hühner. Das war nicht furchtlos. Das war dumm.
»Da ist der Wagen«, rief Jennifer plötzlich und zeigte auf den schwarzen Honda, der mit der Kühlerhaube voran im Straßengraben gelandet war.
»Ich seh keine Ranger«, sagte James, als Val hinter dem alten Civic hielt und den Motor abschaltete.
»Wahrscheinlich haben sie einen Abschleppwagen bestellt«, sagte Melissa, als sie alle gemeinsam ausstiegen und die vier Wagentüren gleichzeitig zuschlugen.
Val ging vorsichtig auf Tylers Wagen zu und spähte durch das Fenster auf der Fahrerseite in der Hoffnung, ihre Tochter schlafend auf der Rückbank vorzufinden. Als sie nichts sah, öffnete sie die Tür.
»Meinst du, das dürfen wir?« James sah sich über die Schulter zu der nicht abreißenden Kolonne vorbeifahrender Wagen um.
»Wahrscheinlich nicht.« Val suchte den Wagen nach irgendeiner Spur von Brianne ab, schnupperte sogar nach einem Hauch ihres Duftes in der abgestandenen Luft.
Nichts.
»Und was jetzt?«, fragte Jennifer.
Val zeigte in den Wald jenseits des Straßengrabens. »Wir müssen da lang«, sagte sie und lief los, bevor irgendjemand sie aufhalten konnte.
»Was machst du?« Nikki stand im Türrahmen des Schlafzimmers und beobachtete, wie Henry die Kommoden im Schlafzimmer durchwühlte.
»Ich guck nur, ob irgendwo noch ein bisschen Bargeld versteckt ist.«
»Wir sind doch schon alle Schubladen durchgegangen.«
»Vielleicht haben wir etwas übersehen. Wie das hier.« Er hielt eine Brosche mit roten, grünen und blauen Schmucksteinen in Form eines Schmetterlings hoch. »Da kriegt man doch bestimmt was für.«
»Das ist wertloser Schrott genau wie die anderen Sachen«, sagte Nikki, die genau wusste, was Henry machte. Nämlich Zeit schinden. Sie hätten das Mädchen längst töten sollen. Sie hätten sie umbringen und abhauen sollen. Stattdessen fielen ihm ständig neue Dinge ein, die angeblich noch vorher erledigt werden mussten: Erst musste er sich ein Sandwich machen; dann musste er noch mal duschen; dann musste er ein »Power-Nickerchen« machen, um zu Kräften zu kommen, nicht nur für den Mord, sondern auch für die Fahrt nach Lake Placid; dann musste er die Hütte erneut nach Wertsachen durchsuchen, was er vorgeblich gerade machte, obwohl sie jede Schublade in der Hütte mindestens ein halbes Dutzend Mal durchwühlt und dabei garantiert kein Bargeld oder Wertsachen übersehen hatten. Es gab nicht mal einen beschissenen Fernseher, den sie klauen konnten, Scheiße noch mal. Nur den blöden Computer, und der war alt und bestimmt nicht viel wert.
Eine vage Erinnerung streifte Nikki. Irgendwas mit dem blöden Computer. Es nagte schon den ganzen Morgen an ihr, ohne dass sie den Finger darauflegen konnte. Verschwommene Bilder stiegen auf, wie sie bekifft und auf Schmerztabletten neulich abends Ellens E-Mails gelesen hatte. Die Mail von ihrem Sohn fiel ihr wieder ein. Er konnte zu irgendeiner blöden Feier im Herbst nicht kommen oder so.
Und noch etwas.
Noch etwas, wiederholte sie und vertrieb den lästigen Gedanken wie eine Mücke,
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