Das Herz des Bösen: Roman (German Edition)
geschickt. Manchmal erhielt sie eine Dankeskarte, häufiger jedoch nicht. Sie hatte sich bei ihren Söhnen beklagt, aber die hatten ihr erklärt, sie seien machtlos. »Exfrauen«, hatte Ben achselzuckend gemeint, als ob das alles erklären würde. In letzter Zeit hatte Ellen versucht, per E-Mail mit ihren Enkeln zu kommunizieren, doch ihre kurzen Fragen nach Gesundheit und Wohlbefinden waren unbeantwortet geblieben. Sie bezweifelte, dass einer von ihnen sich die Mühe machen würde, zu der Goldenen Hochzeit zu kommen, die Stuart und sie im Herbst feiern wollten. »Und so lebten sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage …« Was war nur daraus geworden, fragte sie sich.
Ellen hörte, wie Stuart sich ächzend und mit knackenden Kniegelenken bückte, um die Scheite in dem alten gemauerten Kamin aufzuschichten. Sie betrachtete sein wettergegerbtes, aber immer noch attraktives Gesicht. Seine sanften braunen Augen waren konzentriert zusammengekniffen, seine hohe Stirn gerunzelt, während er sich mit seinen arthritisch geschwollenen Fingern bemühte, ein langes Streichholz anzuzünden. Trotz seines Alters sah der Mann noch immer blendend aus. Selbst nach all der Zeit ließ er ihr Herz noch immer höher schlagen. Ellen staunte über ihr Glück und fühlte sich schuldig, weil sie nicht in der Lage gewesen war, dieses Glück an ihre Söhne weiterzugeben.
Nur dass eine Ehe ebenso sehr harte Arbeit wie Glücksache war. Auch für sie hatte der Himmel nicht immer nur voller Geigen gehangen, der Alltag war nicht auf Rosen gebettet, das Leben kein Zuckerschlecken gewesen. Es hatte Tage, manchmal sogar Wochen am Stück gegeben, in denen ihr der Gedanke mehr als nur flüchtig verlockend erschienen war, dass Stuart unter die Räder eines Busses geraten könnte. Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie daran gedacht hatte, ihn zu verlassen. Einmal hatte sie den Hörer sogar schon in der Hand gehabt, auf dem Küchentisch die aufgeschlagenen Gelben Seiten mit einer Liste prominenter New Yorker Scheidungsanwälte.
Aber dann hatte sie sich an einen Rat erinnert, den ihre Mutter ihr gegeben hatte: In schweren Zeiten solle sie sich an die Gründe erinnern, aus denen sie Stuart geheiratet hatte. Und sie hatte an sein süßes Lächeln, seinen verschmitzten Humor und die Art gedacht, wie seine goldgefleckten, braunen Augen jedes Mal aufleuchteten, wenn sie einen Raum betrat. Bald fielen ihr seine kleinen überraschenden Freundlichkeiten und aufmerksamen Gesten ein, seine stets sanften Berührungen, sein wacher Verstand und seine Duldsamkeit. Und kurz darauf waren die Gelben Seiten wieder in der Schublade verschwunden, und sie kochte ihm sein Lieblingsessen Maccaroni & Cheese. Denn das war noch etwas, was sie an ihm liebte – es war so leicht, ihm eine Freude zu machen.
Dass sie sich auch im Bett gut verstanden, schadete bestimmt auch nicht. Selbst in ihrem fortgeschrittenen Alter liebten sie sich immer noch oft und leidenschaftlich, vielleicht nicht mehr mit der Akrobatik der Jugend, doch darunter hatte ihre Gabe, einander Lust zu schenken, nicht gelitten. »Weißt du, welche Sexualpraktik unter Senioren am beliebtesten ist?«, hatte Stuart einmal gefragt und von seiner Zeitung aufgeblickt. »Oralsex«, hatte er seine eigene Frage augenzwinkernd beantwortet. »Sie reden darüber?«, hatte sie entgegnet. Und wie hatten sie gelacht.
Jetzt lachte sie wieder und wunderte sich, wie viele ihrer Freunde Sex mittlerweile ganz aufgegeben hatten, einige anscheinend ohne Bedauern. Nicht dass sie und Stuart abgesehen von Wayne und Fran McQuaker noch viele enge Freunde hatten, gestand sie sich traurig ein, und das Lachen erstarb in ihrer Kehle, als sie an die Freunde dachte, die an Krebs gestorben oder durch andere Schicksalsschläge aus ihrer Mitte gerissen worden waren.
Ihr Entschluss, das Stadtleben gegen die abgeschiedene Idylle einer Hütte einzutauschen, die sie Jahre zuvor als Investitionsobjekt gekauft hatten, war nicht unriskant gewesen. Ellen hatte sich immer als eine echte Großstadtpflanze gesehen und sich deswegen von vornherein gegen die Idee gesträubt. Aber nachdem ihre anfänglichen Befürchtungen bezüglich Insekten, wilder Tiere und der Einsamkeit zerstreut waren, stellte sie zu ihrer eigenen Verwunderung fest, dass sie den Frieden und die Stille der Natur in Wahrheit genoss. Sie liebte die malerischen Fahrten durch die Adirondack Mountains, die endlos gewundenen Straßen, gesäumt von hohen Bäumen, die sie schützend umfingen, den
Weitere Kostenlose Bücher