Das Herz des Loewen
„Wenn ich das erklären dürfte ... Einem alten Sprichwort zufolge wird die Braut, die allein die Schwelle des Gotteshauses überquert, auch in ihrer Ehe allein bleiben.“
„Was für ein dummer Aberglaube!“, knurrte Lord Nigel.
Megan starrte die Schwelle an, als würde sich eine furchterregende Schlange darauf winden, und berührte das Bernsteinamulett an ihrem Hals. „Ich würde mich gern nach dir richten, Ross, aber ..."
Der Talisman musste gewirkt haben, denn Ross eilte zu ihr. „Ich glaube, ich bin dir einen Gefallen schuldig.“ Höflich bot er ihr den Arm und führte sie in die Kapelle.
„Wirst du mich tatsächlich heiraten?“, wisperte sie.
„Ein kluger Mann weiß, wie sinnlos es ist, gegen etwas zu kämpfen, das er nicht ändern kann.“ Kalte Logik - aber das Feuer in seinen Augen erwärmte ihr Herz. Wenn doch nur Papa käme - dann wäre dieser Tag vollkommen. Aber als sie vor dem Altar stehen blieb und über die Schulter schaute, war der Stuhl mit der hohen Lehne, inmitten der ersten Reihe, immer noch leer.
Ein paar Dorfmädchen lösten die Seidenbänder an Megans Surkot, und junge Burschen entfernten Ross’ Gürtel. Erwartungsgemäß protestierte er, und Megan erklärte: „Auch das ist eine unserer Sitten. Wir beide müssen von anderen Banden befreit werden, ehe wir den Bund der Ehe schließen.“
Zu ihrer Verwunderung nickte er nur. Später konnte sie sich kaum an den weiteren Verlauf der Zeremonie erinnern. Sie kniete nieder und erhob sich, wenn sie dazu aufgefordert wurde, hielt den Kopf gesenkt und betete stumm - um Geduld, um Glück. Das alles würde sie brauchen, wenn sie eine gute Ehe mit diesem rätselhaften Mann führen wollte.
Endlich erklärte Pater Simon das Paar für Mann und Frau und verkündete fröhlich: „Ihr dürft jetzt die Braut küssen!“ Pflichtbewusst hob sie den Kopf und erwartete einen kühlen, flüchtigen Kuss. Aber dann spürte sie den sinnlichen Druck seiner warmen Lippen und hörte ihn leise stöhnen, ein Echo ihrer eigenen Gefühle. „Oh!“, hauchte sie, als Ross sich viel zu früh aufrichtete.
„Nie habe ich gesagt, dass ich dich nicht will“, flüsterte er heiser, und seine Stimme jagte einen wohligen Schauer über ihren Rücken. Die Luft ringsum, von Weihrauchduft erfüllt, schien zu flimmern. Aber hinter der Begierde, die Ross’ blaue Augen verdunkelte, las sie seine Gewissensqualen. „Komm jetzt!“, bat er. „Die Leute warten.“
Megan nickte, außerstande zu sprechen, weil ihre Kehle wie zugeschürt war. Bittersüße Tränen verschleierten ihren Blick, als sie sich zu den Hochzeitsgästen wandte. In der ersten Reihe sah sie ihren Vater sitzen. „Papa! “ Sie wäre zu ihm gerannt, hätte Ross ihren Arm nicht festgehalten. Und das war gut so, denn nun entdeckte sie die spöttisch lächelnde Felis an der Seite des Lairds. „Wie kann er es wagen ...“
„Er ist der Herr von Curthill“, wurde sie von der harten Stimme ihres Gemahls erinnert. „Aber ein Mann, der seine Ehefrau und seine Tochter so beschämen kann, ist zu noch schlimmeren Taten fähig.“
Eines Mordes fähig ... Zum ersten Mal fehlte ihr die Kraft, den Vater zu verteidigen. „Ich muss wohl dankbar sein, weil du überhaupt gekommen bist.“
Während die Mädchen Megans Surkot wieder verschnürten und die Burschen Ross’ Gürtel schlossen, wechselte er ein paar walisische Worte mit Owain. Dann flüsterte er Megan zu: „Du musst lächeln. Lass sie nicht merken, wie sehr er dich kränkt.“
Seine Besorgnis rührte sie. „Jetzt kann er mir nichts mehr anhaben. Nur noch du besitzt die Macht, mir wehzutun.“ Schwer lasteten diese Worte auf seiner Seele, während die jubelnden Sutherlands das Brautpaar in die Halle geleiteten. Sie stiegen auf das Podium hinauf, und Lord Nigel bemerkte: „Ich hatte Lord Eammon viel größer in Erinnerung.“
„Nach dem Tod unseres Sohnes hat er sich in mancher Hinsicht verändert“, entgegnete Lady Mary. „Sein Haar ist ergraut, und er hat abgenommen. In der Kapelle schaute er durch mich hindurch, als wäre ich gar nicht anwesend ...“ Ihre Stimme brach. Arme Frau, dachte Lord Nigel, sie liebt ihren treulosen Ehemann immer noch.
Die Stirn gerunzelt, erinnerte sich Ross an Eammons hohle, erhitzte Wangen, den seltsamen Glanz in den rotgeränderten Augen, die seinem Blick ausgewichen waren. Schuld? Reue? Vielleicht, aber ...
„Papa hat uns nicht in die Halle begleitet“, sagte Megan leise und traurig. „Natürlich könnte Mama
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