Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
verjagen. Dann geht er langsam zwischen den beiden Männern davon, die zwei Tage lang gerackert haben, um im gefrorenen Boden ein Grab auszuheben. Der Junge sieht ihnen nach. Die beiden Totengräber tragen Hacke und Schaufel wie Gewehre auf der Schulter und halten sich dicht neben dem Pfarrer, um ihn gegebenenfalls zu stützen oder um ihn festzuhalten, wenn er vom Boden abheben und in den schwebenden Schnee aufsteigen sollte. Der Alte zwischen ihnen ist mittlerweile völlig weiß und ähnelt mit zunehmender Entfernung einem Engel, aber jedes Mal, wenn er den rechten Fuß hebt, wird ein schwarzer Schuh sichtbar. Die Hunde sehen den Jungen hoffnungsvoll an, als er die Hand auf die Klinke legt, er lächelt ihnen zu, öffnet schnell die Tür und ist sogleich im Innern verschwunden. Sie jaulen draußen und kratzen an der Tür.
Die Kirche ist sauber und aufgeräumt, aber die Fenster sind so vereist, dass nur wenig Tageslicht hereindringt. Sechs Bankreihen auf beiden Seiten des Mittelgangs. Sechzig Menschen fänden hier Platz. Ob hier jemals vor vollem Haus gepredigt wird? Vielleicht wenn es die Norweger aus der Walstation einmal nach der Gegenwart Gottes verlangt. Der Sarg steht neben dem Altar, ein stabiler Holzsarg. Der Räuchergeruch ist schwach, aber unverkennbar.
Grüß dich, sagt der Junge leise und setzt sich auf eine Bank. Es ist erst zwei Tage her, seit sie mit ihr im Sturm unterwegs gewesen sind, er und Jens und Hjalti. Sie haben den Tod hinter sich hergezogen und manchmal aus ihrem Leben erzählt, haben Erinnerungen ausgetauscht, wie man Brot miteinander teilt; nur Jens hat so gut wie nichts gesagt, und jetzt sind bloß sie beide noch übrig, Hjalti liegt irgendwo da draußen im Schnee und kann nichts mehr erzählen. Als die Hunde aufhören, an der Tür zu kratzen, wird es unbehaglich still in der Kirche. Wozu ist er hergekommen? Der Junge sieht sich um. Es ist eine hübsche, schlichte Kirche, in der nur Weniges das Auge ablenken könnte. Genau so, heißt es irgendwo, sollten alle Gotteshäuser der Welt aussehen, so bescheiden, dass sie selbst keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen und so zwischen Gott und dem Menschen stehen. »Gott wohnt überall, nur nicht in der Pracht von Dingen und gewaltigen Bauwerken, sie sind zum Preis des Menschen errichtet und lenken den Geist nur vom Himmel ab.«
Der Junge atmet die kalte Luft mit dem schwachen Räuchergeruch ein. Er geht zum Sarg und möchte etwas Angemessenes sagen oder wenigstens denken, aber was wäre jetzt passend? Sie hinterlässt einen Mann und vier kleine Kinder. Die Kinder weinen sich in den Schlaf. In einer Anwandlung streckt der Junge einen Arm vor, um über dem Sarg ein Kreuz zu schlagen, lässt es aber und malt irgendein unbestimmtes Zeichen in die Luft, guckt sich dann wieder ratlos um, als erwarte er, irgendwo eine Antwort zu finden, bis sein Blick auf das Altarbild fällt und er näher tritt, um die Details zu betrachten. Jesus wandelt auf dem Wasser, der Apostel Petrus geht unter und streckt dem Herrn flehentlich die Arme entgegen. Fünf Männer sitzen mit ihm im Boot, ihre bärtigen Gesichter spiegeln Angst, Schrecken, Hoffnung wider. Der Junge schaut sich das Bild lange an, erst oberflächlich, dann mit wachsender Aufmerksamkeit, denn irgendwas ist ungewöhnlich daran. Er tritt noch näher, und da geht es ihm auf: Er kennt die Landschaft. Er kennt den Sechsruderer und die Mannschaft. Und das Meer. Das Bild zeigt nämlich keinen See irgendwo in einer südlichen Landschaft, sondern das Eismeer draußen vor der Tür, und er erkennt auch die undeutlichen, weißen Berge im Hintergrund wieder. Das Boot ist recht groß für einen Sechser, aber seine Bauweise ist ganz die hiesige, und die Seeleute tragen alle Anoraks und Wollfäustlinge, außer Petrus, der einen Handschuh ausgezogen hat und Jesus eine große, schwielige Hand entgegenstreckt. Jesus trägt keinen Bart und hat ein weiches, freundliches Gesicht, seine zierliche Hand berührt fast die von Petrus. Der Erlöser trägt ein weißes Gewand, dünne, offene Schuhe, und seine Füße sind blau angelaufen, wegen der Kälte natürlich. Die sechs Männer haben Raureif im Bart.
Die Hunde machen sich wieder bemerkbar, sie winseln leise, ein wenig vorwurfsvoll, als wollten sie sich beklagen: Seht nur, wie die Welt uns behandelt, selbst die, die Gott am nächsten stehen, malträtieren uns mit Tritten, dabei nennt ihr uns doch den treusten Freund des Menschen. Wie geht ihr da erst mit euren Feinden um? Dann
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