Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
dem Brief. Der Junge ist so außer sich, dass Ragnheiður ihn zweimal grüßen und beim zweiten Mal laut seinen Namen rufen muss, sonst hätte er sie überhaupt nicht bemerkt, sondern wäre mit seiner dämlichen Trage weitergestapft, als ob es sie gar nicht gäbe, er hätte sie komplett übersehen, obwohl sie ein gelbes Kleid mit Spitzenhandschuhen bis über die Ellbogen trägt und einen grünen Sonnenschirm hält. Vor allem aus Missvergnügen tritt sie zwischen all dem Staub, den Kuhfladen und den Menschen, die nach Salzfisch oder Vogeleiern riechen, mit ihren vornehmen, glänzenden Stiefeln nur vorsichtig auf.
Du grüßt den, und das auch noch zuerst, sagt Tante Lovísa vorwurfsvoll, als sie auf ihrem Weg zum Tee bei Séra Þorvaldurs Frau Guðrún an den beiden Männern vorübergegangen sind. Die Frau des Richters trägt ein weites, helles Kleid, und Männer lüften schon aus großer Entfernung die Hüte. Sie steht weit über uns, beide eigentlich, doch trotzdem sieht man Staub auf ihren Kleidern und auf den Stiefeln; so schwer ist es, sich vollständig über seine Umgebung zu erheben.
Er hat nicht hier herumzulaufen, ohne mich zu sehen, sagt Ragnheiður.
Dieser Junge ist doch nichts, und außerdem wohnt er bei Geirþrúður.
Ich mache, was ich will.
Das weiß ich, aber mach keine Dummheiten! Bald fährst du nach Kopenhagen. Da wartet ein ganz anderes Leben auf dich.
Ich weiß, was ich tue, sagt Ragnheiður ruhig.
Genau das befürchte ich, murmelt die Ältere.
In einem gelben Kleid, mit glänzend schwarzen Stiefeln. Er hat noch nie im Leben eine Frau in einem gelben Kleid gesehen, und dann musste es natürlich ausgerechnet sie sein, die so etwas trug. Sie sind jetzt auf dem Miðreitur im Zentrum angekommen. Ragnheiður hat ihn zuerst gegrüßt, Friðriks Tochter, die Tochter der Macht und der Obrigkeit, gekleidet wie eine Dame aus einer anderen Welt, und er bloß ein einfacher Lastenträger.
Sie sind jetzt bei Leós Laden angekommen. Da setzen sie die Trage ab und schütteln die Arme aus.
Sie hat dich gegrüßt, sagt Bjarni und guckt den Jungen an.
Wir kennen uns flüchtig, sagt der Junge halbwegs entschuldigend, als hätte er Bjarni verraten, wäre nicht ganz aufrichtig zu ihm gewesen.
Solche Leute grüßen höchstens ihresgleichen als Erste.
Ist das wirklich wahr?, fragt der Junge leicht zögernd und erschrocken über die Härte in Bjarnis Stimme.
Ja, sagt Bjarni, schweigt, guckt, seine Kiefer sind angespannt.
Sieh mal, fängt der Junge an, doch da unterbricht Bjarni ihn mit einem Ton, als würde er die Worte zerbeißen: Die grüßen unsereins nicht, außer mit einer bestimmten Absicht, und dann ist es bestimmt keine gute.
Du bist nur wütend, sagt der Junge überrascht.
Nein, wenn hier einer wütend ist, dann jedenfalls nicht ich. Dafür habe ich glücklicherweise nicht die Kraft. Hier ist übrigens dein Brief, sagt Bjarni und greift in die Tasche nach dem Umschlag. Irgendwas müssen sie in dir sehen, Junge, setzt er hinzu, betrachtet nachdenklich den Umschlag und presst plötzlich die Lippen aufeinander, als würde er sich verkneifen, noch etwas zu sagen. Dann reicht er dem Jungen den Brief, der vom Fett auf seiner Jacke fleckig geworden ist und nach seinem Schweiß riecht.
Der Junge riecht es, als er an dem Kuvert schnuppert. Er hat es sich in der Sonne bequem gemacht und lehnt mit dem Rücken an dem Haus mit dem Turmaufsatz von Elías dem Norweger, der lange Zeit Besitzer einer Walfangstation in einem der Fjorde war, inzwischen aber mit seiner isländischen Frau hier im Ort lebt. Sie ist die Tochter eines Kleinbauern, dreißig Jahre jünger als Elías und so lebenslustig, dass sogar der in Elías’ Familie verbreitete Hang zu Depressionen – sein Bruder hat sich erschossen, sein Vater hat sich aufgehängt, eine Großmutter ging ins Wasser, ein Onkel schnitt sich die Kehle durch, ein anderer schluckte Gift, eine Tante versuchte sich im Wald zu erhängen, doch der Ast brach ebenso wie ihre beiden Beine, zwölf Stunden lag sie bei kaltem Regen hilflos draußen, wurde gerettet und starb an der nachfolgenden Lungenentzündung – nahezu verschwindet, solange Elías sich in ihrer Nähe aufhält. Der Junge hört sie durch ein geöffnetes Fenster singen, ihre Stimme lässt an einen Bach im Sonnenschein denken. Er hat sich ein Plätzchen gesucht, wo ihn niemand stört. Bjarni ist in den Laden gegangen, um Eier zu verkaufen und sich Verschiedenes auf Rechnung geben zu lassen, hoffentlich auch
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