Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
Papier und Bleistift für die Kinder. Der Junge schnuppert noch einmal am Briefumschlag, riecht aber wieder nur den Schweißgeruch des Schwerarbeiters. Was mag sie wollen, wozu schreibt sie ihm, außer um sich nach Jens zu erkundigen? Na klar, sie wird nach Jens fragen, hat doch nur an ihm Interesse, denkt der Junge erleichtert und zugleich nicht die Spur erleichtert und guckt lange vor sich hin. Warum hat Ragnheiður mich gegrüßt? Ich möchte sie unter diesem gelben Kleid nackt haben, in diesen Stiefeln, nein, eigentlich will ich das nicht, oder doch, nein, aber mein Gott, was Álfheiður für rote Haare hat! Ich könnte mich kaputt arbeiten, wenn ich sie nur ansehen dürfte, ihren Duft riechen, neben ihnen einschlafen, in ihnen aufwachen dürfte.
Der Junge betrachtet das wimmelnde Leben auf dem Miðreitur, die Arbeiterinnen im Trockenfisch, Leute, die in Tryggvis oder Leós Geschäft ein und aus gehen – die beiden Läden liegen einander gegenüber – oder in der deutschen Bäckerei. Er hält den Brief in der Hand, auf dem sein Name von der mit dem roten Haar geschrieben wurde, und plötzlich ist ihm der Brief vollkommen gleichgültig. Welche Freiheit! Absolut egal. Ich will ihn gar nicht lesen, denkt der Junge überrascht, zufrieden, triumphierend, und stopft den Brief in die Tasche, faltet ihn klein. Diese Richtung schlage ich nicht ein in meinem Leben, denkt er, oder etwas Ähnliches, ich lasse mich nicht von roten Haaren zu Armut verdammen. Dabei hat er seine Vermutung, dass der Brief nichts anderes als eine lange Erkundigung nach Jens darstellt, längst vergessen.
Lebe!
Das letzte Wort seiner Mutter. Ihr letzter Appell. Lebe, lerne, bring es zu was, lass dich nicht von Mühsal unterkriegen und von Entmutigungen kleinkriegen! Er hat vor, zu leben und zu lernen. Und darum stopft er den Brief tief in die Tasche, steht auf, denkt an ein gelbes Kleid, durchsichtige weiße Handschuhe, die bis über die Ellbogen reichen, und daran, wie sie seinen Namen gesagt hat, dass sie ihn laut aussprechen wollte, dass sein Name, seine Existenz, einen Atemzug lang auf ihren Lippen lag, zwischen diesen roten, heißen Lippen.
Solche Leute, hat Bjarni gesagt, solche Leute, als hätte er am liebsten ausgespuckt.
Friðrik hat Snorri fertiggemacht und bedroht Geirþrúður, Ragnheiður ist so gut wie nach Kopenhagen unterwegs, und da vergisst man wahrscheinlich leicht alles, was mit Island zu tun hat. Aber gesetzt den Fall, sie vergisst ihn nicht, und angenommen, sie möchte unbedingt weiterhin seinen Namen rufen, gesetzt auch den Fall, sie würde ihn aus unbegreiflichen Gründen Tag und Nacht bei sich haben wollen und es würde sich ihm die Gelegenheit bieten, Zugang zu ihrer Welt zu bekommen, zur Welt des Luxus und der Sicherheit – würde er das überhaupt wollen? Möchte er hier spazieren gehen und Bjarni grüßen wie einer von diesen Leuten? Was würde das Kleeblatt von ihm halten, wie würde Geirþrúður ihn ansehen, und würden Lúlli und Oddur ihn weiterhin auf diese herzerfrischende Weise grüßen, die alles heller macht? Was wäre mit Gísli, der jedes Mal ein düsteres, versteinertes Gesicht aufsetzt oder sarkastisch wird, wenn die Rede auf seinen Bruder kommt? Der Junge lehnt sich an die Hauswand, beobachtet das Treiben auf dem Miðreitur und versucht den Brief zu vergessen.
Wäre nett, wenn du mit anfassen würdest, sagt Bjarni auf einmal an seiner Seite, und wahrscheinlich erklärt sich der Junge bereit, denn jedenfalls packt er die Holme der Trage, guckt auf Bjarnis Rücken, und sie verlassen den Miðreitur gegen drei Uhr, Frauen eilen hastig an ihnen vorbei nach Hause, um schnell etwas zu essen und das Essen für ihren Mann zuzubereiten, sofern er nicht auf See ist und auf den Wellen reitet, als tanzte er mit dem Horizont.
Klar, dass der Junge den Brief doch gelesen hat.
Kurz überflogen.
Siebenmal.
Das passierte gänzlich ungewollt, hatte gar nicht sein sollen, aber seine Hand fuhr ganz von allein in die Tasche, irgendwo muss man seine Hände ja schließlich lassen, und, ach, da war ja der Brief, und schon las er ihn.
Die Trage zieht mächtig nach unten. Sie ist jetzt mit Lebensmitteln beladen, Mehl, Zucker, Weizen, Kaffee.
Ich halte die Trage, da ist Bjarni, denkt der Junge, das heißt, ich sitze nicht mehr am Turmhaus. Bjarni verlangsamt seinen Schritt und blickt über die Schulter zurück.
Ich habe zehn Bögen und vier Bleistifte gekauft, sagt er.
Der Junge hat den Brief gelesen und zweimal
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