Das Herz des Satyrs: Roman (Knaur TB) (German Edition)
befand. Sie ließ sich Zeit bei ihrer Auswahl, einfach nur, um ihn warten zu lassen. Und weil sie noch immer hungrig war. Und weil sie die kommende Konfrontation fürchtete. Denn obwohl sie Selbstsicherheit zur Schau stellte, zitterte ihre Hand, als sie schließlich eine goldfarbene Birne nahm. Er jagte ihr ebenso viel Angst ein wie jedem anderen. Der einzige Unterschied zwischen ihr und den anderen war, dass sie ihn das nicht wissen ließ.
Kauend wies sie auf den blutigen Totenschädel. »Wie ich sehe, hast du einen neuen Freund gewonnen, und ich denke, auch er ist wohl kein Bewunderer von dir. Mordopfer sind das eher selten.«
Sie stand etwa sechs Meter von seinem Thron entfernt, nicht fähig, ohne ausdrückliche Einladung näher zu kommen. Und ohne eine Brücke. Denn zwischen seinem Thron und den Laren, die darauf warteten, von ihm beehrt zu werden, befand sich ein über vier Meter breiter Graben, gefüllt mit einer säureartigen Substanz, von der ein fauliger, chemischer Gestank ausging. Es kam häufig vor, dass jemand, der sein Missfallen erregt hatte, sich in der unruhigen Flüssigkeit wiederfand.
Pontifex streckte die Hand aus und tätschelte den knorpeligen, blutbedeckten Wangenknochen seiner neuesten Erwerbung. »Ein ehemaliger Augur ex quadrupedibus . Er war ein großartiger Jäger und Wahrsager.«
Dabei strich er mit der anderen Hand über das Löwenfell, das er über seinen Kopf und Körper drapiert hatte. »Das war seine herausragendste Fähigkeit. Steht mir gut, denkst du nicht auch?« Der Löwe, dessen Fell er trug, war ein prachtvolles Tier gewesen, das war deutlich zu sehen. Doch jetzt waren seine Kiefer weit aufgerissen zu einem furchtbaren, lautlosen Brüllen, und seine Augen bestanden aus Glas. Pontifex trug den Löwenkopf wie eine grausige Kapuze, so dass sein eigener Kopf im Maul des Tieres auftauchte. Die Kiefer rahmten sein Gesicht ein, so dass er aussah, als sei er die Mahlzeit des Tieres. Wenn es doch nur so wäre.
»Sollen wir unser Treffen wirklich damit vergeuden, dein Ego zu streicheln?« Silvia runzelte die Stirn und beugte sich etwas vor, als würde sie erst jetzt die Frau bemerken, die auf allen vieren vor ihm kniete und ihren Kopf rasch über seinem Schoß auf und ab bewegte. »Ach, wohl doch nicht, denn wie ich sehe, wird dein Ego bereits gestreichelt.«
Die Menge um sie herum keuchte schockiert auf. Niemand außer ihr wagte es, so mit ihm zu sprechen. Auf eine seltsame Art und Weise, das wusste sie, genoss er derartige Wortgefechte mit ihr. Andernfalls hätte er sie spätestens jetzt zerquetscht.
»Wo ist die andere?«, fragte Pontifex, während er Silvia aus schmalen Augen beobachtete. »Die Begleiterin.«
Silvia spannte sich an. Also wollte er heute Nacht Spielchen mit ihr spielen. »Auf der Erdenwelt. Wo sie ihre Pflicht erfüllt.«
Er klopfte mit einem langen, gelblichen Fingernagel an sein Kinn. »Ach ja, dort ist Rufnacht, nicht wahr? Tag und Nacht sind ja entgegengesetzt zwischen unserer Welt und der nächsten. Der Mond steht auf der anderen Seite des Tores jetzt hoch am Himmel. Und Herr Satyr ist zweifellos dabei, sie zu vögeln?«
Silvia biss die Zähne zusammen. »Falls ja, dann wahrscheinlich mit besseren Ergebnissen, als Occia sie hier erreicht.« Sie hoffte, damit Pontifex’ Aufmerksamkeit von der Frage abzulenken, warum Michaela plötzlich nicht mehr herkommen musste, um Erneuerung an Vestas Flamme zu suchen. Dabei reckte sie sich in Richtung der Frau, die ihm noch immer zu Diensten war.
»Grüße, Occia«, flötete sie. Zerstreut grinste Pontifex auf die Frau herab und streichelte ihr übers Haar, denn er genoss es, sie erniedrigt zu sehen.
»Wie ich sehe, hast du dich wieder einmal als Tierpräparatorin versucht«, fuhr Silvia fort und wies auf das Löwenfell. Occia war einst selbst eine Vestalin gewesen, doch zugleich war sie bewandert in der grausigen Kunst, Tierfelle zu präparieren, auszustopfen und in lebensechten Posen in Stellung zu bringen. »Bitte erhebe dich nicht extra meinetwegen. Ich kann sehen, dass du beschäftigt bist.«
Occia wagte es nicht, ihren Mund von Pontifex’ Schwanz zu entfernen, um eine ihrer üblichen giftigen Antworten zu geben. Doch sie musste wohl in ihren Bemühungen nachgelassen haben, denn er zuckte zusammen, griff ihr ins Haar und zog fest an. »Vorsichtig«, warnte er sie in gefährlichem Tonfall.
Occia nickte wortlos und fuhr fort damit, an ihm zu saugen. Schon seit Jahrhunderten, seit sie alle als kleine Mädchen
Weitere Kostenlose Bücher