Das Herz des Satyrs: Roman (Knaur TB) (German Edition)
waren und ihre ersten Früchte getragen hatten. Nun waren ihre Stämme knorrig, ihr Inneres verrottet, und ihre Äste waren verdreht und halb tot. Bei ihrem Anblick fühlte Silvia sich alt.
Sie rieb die Hände aneinander, rezitierte einen gebetsähnlichen Zauberspruch und blies dann leicht zwischen ihre Handflächen. Hitze kam auf, Rauch bildete sich, und dann entsprang ein Feuer ihren Handflächen. Es war ein uraltes Feuer von Heim und Herd, geboren aus der Göttin Vesta. Silvia warf das Feuer vor sich in die Luft und sah zu, wie es sich blitzschnell zu einer senkrechten Feuerwand formte. Ein Feuertor. Dieses spontane Feuer ermöglichte das Wandeln zwischen den Welten, indem es ein Tor bildete, das nur sie und elf andere Wesen in den Welten erschaffen konnten. Die Vestalinnen. Rasch trat sie hindurch und verschwand damit von der Erdenwelt. Sobald sie hindurchgegangen war, erlosch das Feuer, als hätte es nie existiert.
Und im nächsten Augenblick wurde Silvia von der Erdenwelt weg und in die Anderwelt befördert.
Zurück an den einen Ort, der ihr mehr Angst machte als jeder andere Ort in beiden Welten.
Den Schlupfwinkel von Pontifex Maximus.
4
S ilvia ging an der Reihe der wartenden Besucher vorbei, die um eine Audienz bei Pontifex Maximus V. in seinem pompösen Thronsaal nachsuchten. Zu beiden Seiten der Reihe standen Frauen in kleinen Gruppen; sie warteten ebenfalls, aber zu einem anderen Zweck. Es waren die Laren, die Schutzgeister der Vestalischen Jungfrauen – und nun die Sexsklavinnen von Pontifex. Damit keine von ihnen aus der Gruppe ausbrechen oder von den Besuchern belästigt werden konnte, standen bewaffnete Soldaten des Anderweltrates in Abständen Wache.
Silvia hätte es vorgezogen, keine Aufmerksamkeit zu erregen, aber das war unmöglich. Geistwandlerinnen wurden zu sichtbaren und körperlichen Wesen, sobald sie diese Welt betraten. Glücklicherweise war es nicht so, dass sie sterblich wurde, wenn ein anderes Geschöpf der Anderwelt sie hier in ihrer wahren Form zu sehen bekam – das geschah nur, wenn sie sich einem Menschen auf der anderen Seite des Tores zeigte.
Die Laren fauchten, als sie den Mittelgang des Tempelgebäudes entlangschritt, und riefen ihr bittere Vorwürfe zu. »Traditore! Schiuma!« Verräterin. Abschaum . Die hasserfüllten Worte der Frauen trafen sie wie die Stacheln giftiger Insekten. Die Beleidigungen erfüllten den großen Saal und hallten von den Steinwänden, den Bögen und der vergoldeten Kuppeldecke wider, so dass sich jedermanns Aufmerksamkeit auf Silvias Ankunft richtete. Die Laren, die ihr diese Lästerungen entgegenschleuderten, waren einst ihre Verbündeten gewesen. Doch nun hassten sie sie, und das aus gutem Grund, denn sie war eine Anhängerin ihres Feindes. Zumindest glaubten sie das. Und es wäre zu gefährlich, die Laren über den wahren Stand der Dinge aufzuklären. Also straffte sich Silvia und sah weder nach rechts noch nach links, als sie auf ihn zuging – ihn, den sie mehr als jeden anderen hasste: Pontifex.
Er saß am Ende des mit Teppich belegten Ganges, prahlerisch in ein Löwenfell gehüllt. Hinter ihm befand sich eine massive Mauer mit neun Türen von eigentümlicher Form und unterschiedlicher Größe. Nach einem verstohlenen Blick dorthin vermied sie jeden weiteren Blick auf die Türen, denn es war einfach zu schmerzlich.
Als Pontifex sie bemerkte, entließ er seinen Besucher mit einer Geste und musterte sie von oben bis unten, während sie sich ihm näherte. »Deine alten Freunde scheinen dich nicht mehr besonders zu mögen«, bemerkte er höhnisch anstelle einer Begrüßung.
Sein riesiger Thron war abscheulich. Die hohe Rückenlehne war mit Totenschädeln bedeckt, die er vergoldet und in die Dekoration des Throns eingearbeitet hatte. Jeder dieser Totenschädel war der Kopf eines seiner früheren Rivalen, die er über die Jahrhunderte besiegt hatte. Dadurch, dass er sie alle getötet und ihre Essenz in sich aufgenommen hatte, war es ihm möglich, weit über die normale Lebensspanne eines sterblichen Anderweltgeschöpfes hinaus zu existieren. Gerade jetzt hing wieder ein frischer Kopf an seinem Thron, geronnenes Blut am grob durchtrennten Hals. Ein paar junge Laren saßen zu beiden Seiten auf dem Teppich. Sie hatten Fesseln um die Knöchel und sahen verängstigt aus.
Bevor Silvia antwortete, hielt sie kurz inne und studierte das üppige Angebot an Speisen auf einem Podest, das sich auf einer Seite des Mittelgangs am Ende des Teppichs
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