Das Herz des Satyrs: Roman (Knaur TB) (German Edition)
führen konnte. Seit heute Nacht, und dank ihrer Hilfe, war er nun dem Ziel, sie zu finden, einen riesigen Schritt näher gekommen. Indem sie sich ihm in Gestalt ihrer selbst als sechsjähriges Mädchen gezeigt hatte, war sie ein Risiko eingegangen, aber es war der schnellste Weg gewesen, ihn davon zu überzeugen, wo der Tempel der Vesta und das Haus begraben waren, ohne ihm ihre wahre Gestalt zu enthüllen.
Mittlerweile hatten die beiden Männer den Rand des Forums erreicht. Silvia sah zu, wie Bastian und Michaela zusammentrafen, und analysierte ihre Begrüßungsumarmung. Erneut traf sie der Anblick der beiden unvermittelt: Sie wirkten so harmonisch zusammen, so wundervoll füreinander geschaffen, so perfekt. Ihre Finger glitten an ihre bleiche Wange und fuhren die leicht erhöhte Linie der Narbe dort nach.
Sie sah auf zum dunkel werdenden Himmel. Bald würde sich der Mond zeigen. Der Vollmond wirkte sich auf alle Geschöpfe der Anderwelt aus, aber auf keines so sehr wie auf den Satyr. Bastian und seine Brüder würden bald die Wandlung durchleben, vielleicht sogar schon jetzt. Vom Beginn des heutigen Abends an bis zum morgigen Tagesanbruch würden sie die sinnlichen Rituale genießen. Es würde eine Nacht der Ausschweifungen sein, gewidmet Bacchus, dem alten römischen Gott des Weins.
Wie würde Michaela mit all der männlichen Energie umgehen, die ihr entgegengebracht wurde? Sie würde Michaela irgendwann nach den Einzelheiten fragen müssen.
Die drei entfernten sich und stiegen in eine Kutsche. Wohin würde er Michaela bringen? Vielleicht in sein Haus, oder in das seines Bruders? Silvia sah zu, wie das Gefährt am Horizont verschwand.
Danach glitt sie von der Mauer herab und ging auf das Zelt zu, das er und sein Bruder erst vor kurzem verlassen hatten. Heimlich schlich sie hinein. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen, und sie schüttelte belustigt den Kopf. Die Regale waren ordentlich eingerichtet und peinlich sauber, genauso wie sein Haus.
Sie erspähte die Tonscherbe auf seinem Schreibtisch und machte einen Schritt darauf zu. Als sie zuvor als Vision hergekommen war, hatte sie gesehen, wie er sie in der Hand hielt, und sie hatte die Scherbe als das erkannt, was sie war. Genau das, was sie brauchte, um Pontifex davon zu überzeugen, dass hier alles in die richtige Richtung ging.
Plötzlich hörte sie, wie hinter ihr jemand das Zelt betrat. Verblüfft drehte sie sich um und erblickte einen korpulenten Mann. Er war unscheinbar und sah aus wie irgendeiner der unzähligen Männer, an denen sie regelmäßig hier auf den Straßen von Italien vorbeiging. Bei näherem Hinsehen jedoch erkannte sie, dass sie genau diesen Mann vorher auf dem Gelände gesehen hatte, als er mit Bastian sprach. Eine Art Vorarbeiter. Er schlich zum Schreibtisch und nahm die Tonscherbe an sich, wegen der Silvia gekommen war; danach ließ er sich in Bastians Sessel fallen.
»Bastard«, murmelte er. Zufrieden lehnte er sich zurück und ließ den Blick über Bastians Herrschaftsbereich schweifen, den er offensichtlich selbst begehrte. »Kommandiert hier alle herum mit seinem ach so großen Talent. Aber egal, bald genug werde ich in diesem Sessel sitzen.« Er verbarg die Tonscherbe in seinem Mantel, als er aufstand, um das Zelt zu verlassen.
Wie konnte er es wagen, das Fundstück zu stehlen? Silvia ignorierte die Tatsache, dass sie der Absicht, zu stehlen, gleichermaßen schuldig war, kauerte sich hinter den Schreibtisch und machte sich schnell sichtbar. »Leg sie zurück oder stirb, Mensch!«, flüsterte sie in ihrer besten Imitation eines Gespenstes. Der Vorarbeiter fuhr schnell herum, stolperte auf dem Teppich und fiel auf die Knie.
»Wer ist da?« Mit weit aufgerissenen Augen suchte er nach dem Ursprung der Stimme, aber Silvia hatte sich gut versteckt und bereits wieder unsichtbar gemacht. Mit entsetzter Miene warf der Mann die Tonscherbe zurück auf den Schreibtisch und ergriff die Flucht.
Sobald sie hörte, wie sich seine Schritte über das Forum entfernten, wurde sie wieder sichtbar, denn in ihrer Geistform konnte sie die Scherbe nicht mit sich herumtragen. Geschickt steckte sie sie ein. Da es gefährlich für sie war, in ihrer sichtbaren Form hier weiter zu verweilen, schlug sie die hintere Klappe des Zeltes auf und verschwand auf diesem Weg, ohne entdeckt zu werden.
Sie fand Unterschlupf in einem nahen Gehölz aus Olivenbäumen. Vor über zweihundert Jahren war sie schon einmal hier in Rom gewesen, als diese Bäume noch jung
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