Das Herz des Satyrs: Roman (Knaur TB) (German Edition)
Hund zurück zu seinem Herrn und stupste ihn beunruhigt mit seiner feuchten Schnauze an. Silvia trat näher und kniete neben dem Jungen nieder. Er war dem Tode schon sehr nah. Sie musste schnell handeln. Sie kannte die Ursache für seinen Zustand nicht, doch sobald sie mit ihm verschmolz, würde sie alles über ihn wissen, was es zu wissen gab.
Um sie herum war alles still, als sie tat, was sie tun musste. Nur Augenblicke später stand sie auf und starrte auf die leere Pritsche. Der Hund beschnüffelte sie wieder misstrauisch. Jetzt kannte sie seinen Namen. Salvatore. Und den Namen ihrer eigenen angenommenen Gestalt: Rico. Rico, der zwölfjährige Taschendieb, der vor zwei Tagen von einer Ratte in den Knöchel gebissen worden war; der seine Eltern bereits als Baby verloren und das Diebeshandwerk von verschiedenen Kleinkriminellen auf der Straße gelernt hatte. Er war schlagfertig und hatte zwar nie eine Schule besucht, sich aber selbst das Lesen beigebracht. Und er liebte Sal mehr als alles andere. Er hatte ihn über das ganze letzte Jahr trainiert und sich um ihn gekümmert, seit er ihn halb verhungert auf der Straße aufgelesen hatte.
»Guter Junge, Salvatore.« Wie zuvor schon streckte sie eine Hand nach dem Hund aus. Erneutes Schnüffeln, diesmal mit besserem Ergebnis. Der Hund wedelte mit dem Schwanz, erst zögernd, dann ausgelassener, als er seinen Herrn wiedererkannte. Der Duft eines Wirtskörpers, ebenso wie seine Erinnerungen und Gefühle, blieben die ersten Tage nach der Wiederauferstehung erhalten. In dem Glauben, sie sei sein Herrchen, folgte ihr der Hund tänzelnd vor Aufregung, als sie sich vom Aquädukt entfernte.
Niemand, an dem sie vorüberging, schenkte ihr irgendwelche Beachtung. Allem Anschein nach war sie ein zerlumpter obdachloser Junge und besaß als solcher nichts als einen Hund und ein kleines rostiges Messer in der Tasche. Im Grunde hatte sie damit Ricos Identität angenommen.
Statt zu sterben, wie es sein sollte, würde sein Körper nun durch sie weiterleben. Doch nicht länger als einen Monat. Denn immer zu Vollmond segneten die Toten endgültig das Zeitliche. Doch auch nachdem er diese Welt verlassen hatte, würde sie einige seiner Fähigkeiten und Erinnerungen behalten, so wie bei jedem früheren Wirt. Und so würde ein kleiner Teil von ihm auf ewig in ihr weiterleben.
Sie rief Sal an ihre Seite, und als sie ihn tätschelte, stieg eine Staubwolke von seinem Fell auf. » Puh! Ich denke, der erste Punkt auf der Tagesordnung ist ein Bad. Für uns beide. Also komm, alter Junge.«
Der Hund jaulte, doch glücklicherweise folgte er ihr. Dass sie bei der Erfüllung des jeweils letzten Wunsches ihrer Wirte noch nie versagt hatte, war etwas, das sie mit persönlichem Stolz erfüllte. Rico hatte sich um die Zukunft seines Hundes gesorgt. Sie hatte versprochen, ein Zuhause für Sal zu finden. Und genau das würde sie tun.
»Ich frage mich, ob Herr Satyr wohl Hunde mag«, grübelte sie laut, als sie sich mit Sal auf den Weg zum Forum machte.
Scena Antica II
2. Februar 374 n. Chr.
Haus der Vestalinnen in Rom, Italien
Zusammen mit den anderen elf Novizinnen wurde Silvia an diesem ersten Morgen von ihren Eltern getrennt und in das Atriumhaus auf dem Forum Romanum gebracht. Unmittelbar danach, noch bevor sie miteinander sprechen konnten, wurde jedes der Mädchen von einem Gefolge von Bediensteten in ein einzelnes Zimmer geleitet. Obwohl Silvia lautstark protestierte, wurde an ihr herumgezerrt und gestochert, als man ihre Zähne, Ohren und Augen untersuchte.
Obwohl sie sich heftig zur Wehr setzte, wurde ihr danach das Gewand ausgezogen und jeder Zentimeter ihrer Haut nach Makeln abgesucht. Nachdem sie diese Prüfung bestanden hatte, legte man sie auf einen Steintisch, und starke Hände hielten sie unerbittlich an Hand- und Fußgelenken fest, während man sie sachte zwischen den Beinen untersuchte. Inmitten ihrer wütenden Schreie strich ihr eine große Hand sanft übers Haar. Sie sah auf und sah Pontifex neben ihr stehen.
»Nur eine Jungfrau kann der Göttin dienen, liebste Nichte«, sagte er beschwichtigend. »Wir müssen es sicher wissen.«
»Sicher wissen? Was denn?«, rief sie tränenüberströmt.
Die Erwachsenen, die sie festhielten, lächelten sich gegenseitig zu. »So unschuldig«, erwiderte Pontifex wohlgefällig.
Als alle hinreichend zufriedengestellt waren, durfte sie aufstehen. Sofort versuchte sie zu fliehen, wurde jedoch wieder eingefangen und gebadet. Im Anschluss wurde ihr
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