Das Herz des Satyrs: Roman (Knaur TB) (German Edition)
Lorbeerkranz. »Unsere zweite Begleiterin!«, verkündete Pontifex.
Nacheinander kamen nun auch die anderen Mädchen heran, und jedes Ablegen eines Steins wurde von Pontifex verkündet und von einem Schreiber wiederholt und auf einer Tafel notiert. Als auf der Schale zwölf feurige Opale glänzten, hieß man Silvia und die anderen Worte nachsprechen, deren Bedeutung sie nicht ganz verstanden. »Heute wurde ich verpflichtet, Vestas Flamme zu hüten und zu bewahren. Drei Jahrzehnte lang werde ich ihr dienen und die Flamme von Haus und Herd hüten.«
Als die Worte verklangen, flackerte in der Mitte der Schale spontan eine bezaubernd schöne Flamme in Scharlachrot, Gold, Saphirblau, Fuchsia und Titanweiß auf. Schockiert sprangen die Mädchen zurück. Doch Pontifex lächelte wohlwollend. Er hob die Schale hoch und trug sie aus dem Atrium, mit der Ankündigung, dass er sie in den angrenzenden Tempel bringen würde.
Sobald er mit großer Geste verschwunden war, begannen sie zu speisen. Das Mädchen mit den violetten Augen setzte sich neben Silvia und flüsterte ihr zu: »Ich heiße Michaela.«
5
S ilvia schlenderte in ihrer neuen Inkarnation als Rico über die alte Straße des Forums, die Via Sacra. Es war ein wundervoller, frischer Februartag, und sie ertappte sich belustigt dabei, dass sie beim Gehen hüpfte. Sie verspürte eine ungewohnte Energie in sich, die sie dem Optimismus der Jugend zuschrieb.
Ihr neuer Wirt mochte zwar ein Taschendieb sein, doch zugleich war er auch ein aufgeweckter Junge voller Neugier. Er hatte eine für sein Alter typische natürliche Begeisterung für eine Schatzsuche, und die Aussicht, auf dem Forum zu graben, weckte sein Interesse. Es war nur natürlich, seine Aufregung zu teilen, denn für die absehbare Zukunft war sie nun mit ihm verbunden.
Zufrieden beobachtete sie die hektische Betriebsamkeit, mit der um sie herum gearbeitet wurde. Grabungsabschnitte wurden vermessen und in der Umgebung des Komplexes abgeteilt, der den Tempel der Vesta und das Atriumhaus umfasste, das sie einst ihr Zuhause genannt hatte. Genau die Stelle, die sie letzte Nacht Herrn Satyr gezeigt hatte.
»Sieht so aus, als könnte Michaelas gemächlicher Liebhaber sich durchaus schnell bewegen, wenn es nötig ist, eh, Sal?« Beim Klang seines Namens spitzte der Hund die Ohren, und sie tätschelte ihm freundschaftlich den Kopf.
Unglücklicherweise lagen Tempel und Haus derzeit in der Erde begraben. In der Tat bestand das gesamte Forum nur aus verstreut herumliegenden, verwitterten Marmorblöcken, hoch aufragenden Säulen, teilweise ausgegrabenen Bögen und zerfallenen Mauern. Doch sie erinnerte sich daran, dass es zu Zeiten der Antike ein belebter Ort gewesen war, wo an jedem Tag Tausende Fußgänger durch den Irrgarten der Stände geströmt waren, um Klatsch und Tratsch und Münzen auszutauschen. Hier lag einst das politische, religiöse und kulturelle Zentrum von Rom – es war der Ort, um einer Opferzeremonie beizuwohnen, sich eine Prostituierte zu beschaffen oder einer politischen Rede zuzuhören. Doch nach dem Zusammenbruch des römischen Imperiums hatten die Fluten des Tiber zu einer allmählichen Ablagerung von Sedimenten geführt und Schicht um Schicht alles zugedeckt.
»Meiner Einschätzung nach müssen sie nur etwa fünf Meter tief graben«, erklärte sie Sal. »Zweifellos wird Herr Satyr jeden einzelnen Zentimeter ausführlich begutachten. Ich werde ihm etwas Feuer unter seinem Allerwertesten machen müssen.« Silvia grinste über ihren eigenen Scherz, ein Lieblingswitz unter den Vestalischen Hüterinnen der Flamme vor fünfzehnhundert Jahren.
Sie biss in den Apfel, den sie vom Stand eines Verkäufers auf dem nahen Markt gestohlen hatte. Ricos Fertigkeiten als Dieb waren beeindruckend. Indem sie Sal als Ablenkung einsetzte, hatte sie es geschafft, ein veritables Festmahl aus Brot, Käse und Früchten zu stibitzen, das sie dann mit dem Hund gemeinsam vertilgte. Zum ersten Mal seit Tagen war sie nicht im Geringsten hungrig. Und sie war sauber, denn sie hatte es geschafft, sich und Sal in Berninis Barcaccia-Brunnen am Fuß der Spanischen Treppe zu baden, bevor sie von der polizia verscheucht wurden.
Geradeaus, zwischen der alten Basilika und dem Tempel des Cäsar, erblickte sie das riesige weiße Zelt, das als Bastians Hauptquartier diente. Bei gutem Wetter konnte man die Zeltklappen an allen vier Seiten öffnen. Heute waren sie wegen des kalten Windes geschlossen, aber Silvia sah Schatten, die sich
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