Das Herz des Satyrs: Roman (Knaur TB) (German Edition)
sie, und sie weigerte sich, Pontifex anzusehen, als sie langsam den Kopf schüttelte. Sie legte die Handflächen aneinander, ließ ihre erneuerte innere Flamme auflodern, erschuf ein Feuertor und verschwand unverzüglich aus seinem Tempel.
In dem Augenblick, in dem Silvia sich wieder auf der Erdenwelt materialisierte, fühlte sie auch schon, wie die Sterbenden nach ihr riefen. In einer so großen Stadt wie Rom gab es zu jeder Zeit Wesen, die dem Tode nahe waren, und solche, die gerade geboren wurden. Erstere waren es, die nun nach ihr riefen.
… bitte, lass mich noch etwas länger leben … es gibt noch so viel zu tun … meine Kinder, was werden sie ohne mich nur anfangen … meine Katze … mein Vermögen … mein Ehemann … meine Frau … bitte …
Manche in den Welten hielten das Wirken einer Geistwandlerin für grausam, doch in Wirklichkeit war es so, dass die Sterbenden hofften, sie würde sie erwählen. Sie flehten darum, dass Silvia sie wiederauferstehen ließ, damit sie weiterleben konnten, wenn auch nur für kurze Zeit. Es gab immer etwas, das noch unerledigt geblieben war; und im Austausch für den zeitweiligen Gebrauch ihrer Körper würde Silvia ihnen helfen, diese letzte Sache zu vollenden.
Die Aussicht, eine neue körperliche Gestalt anzunehmen, gab Silvia ein Ziel und half ihr, den Ekel abzuschütteln, den sie noch immer nach ihrem Besuch in Pontifex’ Reich verspürte. Heute Nacht konnte sie sich einen Wirtskörper aussuchen, und so ging sie die makaberen Möglichkeiten durch, die sich ihr darboten. Eine Prostituierte von niederer Geburt, ein älterer Geistlicher, ein zwölfjähriger Wichtel, der sein Leben als Taschendieb verbracht hatte, eine Fischhändlerin, die zum Feenvolk gehörte. Die Liste wurde immer länger. Im gegenwärtigen Augenblick befanden sich ein Dutzend Geschöpfe im festen Griff des Sensenmannes, aber diese vier schienen die besten Kandidaten zu sein.
Sie musste fleischliche Form annehmen, um sich Zugang zu den Vorgängen in diesem großen weißen Zelt auf dem Forum zu verschaffen. Aber welcher der vier wäre die größte Hilfe dabei, in die Nähe von Bastian Satyr zu gelangen? Sie malte sich mögliche Szenarien aus: Eine Prostituierte könnte ihn zu unerlaubtem Sex verführen. Nein, damit würde sie ihre Vestalischen Gelübde und Michaelas Vertrauen verraten. Ein Geistlicher könnte ihn mit ihrer besten Freundin verheiraten. Nein, auch das passte nicht und war überdies vorschnell, denn von einer Heirat war bisher keine Rede gewesen. Eine Fischhändlerin? Auch nicht, denn sie bezweifelte, dass Herr Satyr seine Einkäufe auf dem Markt selbst erledigte, so dass sie auch damit ihr Ziel, sich in sein Leben einzuschleichen, nicht erreichen würde.
Damit blieb nur noch der Taschendieb übrig. Ein frecher Junge würde harmlos wirken. Und seine Fähigkeiten als Dieb würden eine nützliche Erweiterung ihres beständig wachsenden Repertoires darstellen. Immerhin war sie ja hier, um Herrn Satyr zu bestehlen.
Nachdem sie ihre Wahl getroffen hatte, machte sie sich in aller Eile auf den Weg zu dem unglücklichen Opfer. Wenn er starb, bevor sie ihn erreichte, würde es zu spät sein. Sie musste genau im Augenblick seines Todes anwesend sein, um seinen Körper zu übernehmen.
Eine halbe Stunde später erreichte Silvia die Ruinen der Aqua Claudia. Die Überreste des alten ziegelverblendeten Aquäduktes waren in die Aurelianische Mauer integriert worden, die einst die sieben Hügel von Rom umgeben hatte. Ihre Ecken und Winkel boten willkommene Verstecke für Obdachlose und die Ausgestoßenen der Gesellschaft.
Sie fand den Jungen verborgen unter einem der bröckelnden Bögen des Aquäduktes, wo die Ziegelsteine so ausgehöhlt waren, dass sie einen Schlafplatz boten. Der Junge lag zitternd auf einer provisorischen Pritsche und atmete flach. Wenn sie nicht durch ihn angezogen worden wäre und dadurch gewusst hätte, wo sie suchen musste, sie hätte ihn übersehen. Ein staubbedeckter weißer Mischlingshund, den sie zuerst gar nicht bemerkt hatte, lag an seiner Seite und erhob sich nun. Er stand stocksteif und wachsam da. Nur wenige Tiere waren in der Lage, sie in diesem Zustand wahrzunehmen, doch Hunde gehörten dazu. Sie beäugten sich gegenseitig und taxierten jeder die Absichten des anderen. Er bellte unsicher.
Sie hielt ihm die Hand hin und ließ ihn daran schnüffeln. »Es ist in Ordnung. Ich bin hier, um zu helfen«, redete sie ihm gut zu. Immer noch unsicher, ging der
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