Das Herz des Satyrs: Roman (Knaur TB) (German Edition)
rotgoldenes Haar, das ihr Vater immer schön wie den Sonnenuntergang genannt hatte, kurzerhand geschoren, bis sie kahl war. Mittlerweile weinte sie hemmungslos.
»Deine Locken werden an den Zweigen des Lotus Capillata aufgehängt werden, als fromme Gabe an die Götter«, sagte man ihr. Als ob damit alles in Ordnung wäre.
Ihr eigenes einfaches Gewand war verschwunden, stattdessen zog man ihr nun ein weiches, weißes, fließendes Gewand an, das an der Brust von einer Brosche mit einem Feueropal geschlossen wurde. Eine infula – ein Schal, der ihr bis über die Schultern ging – wurde lose um ihren glatten Kopf gehüllt. Danach ließ man sie barfuß in den Hof in der Mitte des rechteckigen, von Säulen umrahmten Atriums hinaus. Wütend und erniedrigt versuchte sie, die Türen zu beiden Seiten des Atriums zu öffnen.
»Das habe ich schon versucht«, sagte ein Mädchen hinter ihr. »Sie sind verschlossen.«
Wie Silvia trug auch dieses Mädchen ein weißes Gewand mit Kopfbedeckung. Auch sie war kahl geschoren. Ihre violetten Augen sahen riesig in dem olivfarbenen Gesichtchen aus, und ihre Wangen waren tränenüberströmt. »Was denkst du, was sie wohl mit uns machen?«, fragte sie.
Ein weiteres Mädchen mit braunem Haar und braunen Augen wurde ins Atrium gelassen und kam zu ihnen. »Wir werden der Göttin dienen«, sagte sie.
»Warum wir?«, fragte Silvia. »Warum wählen sie uns aus?«
Das Mädchen mit den violetten Augen streckte die Hände aus, die Handflächen nach oben gewandt. »Sie haben gesagt, ich wurde erwählt wegen meiner Gabe.« Sie berührte Silvias nackten Arm, und Silvia spürte das warme Prickeln auf ihrer Haut. Überrascht legte sie ihrerseits die Hand auf den Arm der anderen. Die zuckte zusammen, und beide lächelten sich bei der wundersamen Erkenntnis an.
»Wir sind gleich«, hauchte Silvia. Obwohl dieser Ort ihr Angst machte, schlich sich zögernd ein Gefühl der Freude in ihr Herz. Sie hatte sich immer so anders gefühlt als andere, so allein. Jemand anderen zu finden, der so war wie sie, das war etwas, worum sie jede Nacht in ihren Gebeten die Götter angefleht hatte.
Die Dritte berührte die beiden anderen mit je einer Hand, und Silvia zuckte zusammen, als sie auch hier das Prickeln spürte. »Au!« Diese Berührung hatte schmerzhaft gebrannt. Noch mehr Mädchen kamen hinzu, jedes von ihnen mit geschorenem Kopf. Auf entsprechende Fragen hin enthüllten diese, dass auch sie von Geburt an eine seltsame, übernatürliche Wärme in ihren Handflächen beherbergten.
Als alle zwölf im Atrium waren, tischten Bedienstete ein Festmahl auf, wie Silvia es noch nie gesehen hatte. Holzteller mit Melonen, Trauben und Oliven; Platten mit Fleisch, Fisch, Brot und Käse; Krüge mit honiggesüßtem Wasser und Wein. Die Mädchen versammelten sich um das Mahl, begierig, davon zu kosten. Doch dann erschien Pontifex, und man wies sie an, zu warten, während eine flache goldene Schale mit großem Zeremoniell auf ein Podest in der Mitte plaziert wurde.
Dann breitete er die Arme aus und sprach. »Novizinnen! Ihr habt das Privileg, die zwölf Juwelen des Aeneas an eurer Brust zu tragen – kostbare Opale, die aus dem alten Troja in diese Welt gebracht wurden. Bevor wir tafeln, wird eine jede von euch den Edelstein von ihrer Brosche nehmen und ihn feierlich in eine dieser Mulden in der Schale legen«, wies er sie an. Er fuhr mit der Fingerspitze um den Innenrand der Schale und wies so auf die beiden Ringe hin, die sich dort befanden, mit je sechs kleinen Mulden darin. »Ihr seht, dass einer der Ringe etwas höher gelegen ist als der andere. Trefft eure Wahl mit großer Sorgfalt.«
Als niemand sich freiwillig meldete, nahm Silvia den Opal von ihrer Brosche, trat an die Schale und legte den Stein willkürlich in eine der oberen Mulden.
»Unsere erste Jungfrau!«, verkündete Pontifex und setzte ihr mit großer Sorgfalt und Aufregung einen Olivenkranz auf den Kopf, so als ob sie gerade etwas Großartiges vollbracht hätte. Danach ging sie zum Tisch, entdeckte jedoch zu ihrer Enttäuschung, dass dort Wachen standen und sie warten musste, bis alle anderen dasselbe getan hatten.
Das Mädchen mit den violetten Augen ging als Nächstes. Lächelnd legte es seinen Stein in den unteren Ring, direkt unter Silvias Stein. Anstelle eines Olivenkranzes setzte man ihr einen aus Lorbeer auf den Kopf. »Unsere erste Begleiterin!« Das braunäugige Mädchen legte seinen Stein in den unteren Ring und erhielt ebenfalls einen
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