Das Herz des Satyrs: Roman (Knaur TB) (German Edition)
schmutzfarbenen Büscheln, die sich nicht bändigen ließen, aus dem Kopf. Unter ihren Kopfbedeckungen sahen die zwölf kurzhaarigen Mädchen allesamt wie kleine Jungen aus.
Es war ein seltsames, privilegiertes Leben, das sie in den letzten drei Monaten geführt hatten, seit sie hierhergekommen waren, um Vesta zu dienen. Sie lebten abgesondert vom übrigen Rom und genossen hohes Ansehen. Sie wurden täglich von geachteten Gelehrten unterrichtet, die normalerweise nur hochgeborene Söhne als Schüler akzeptierten. Im Gegensatz zu allen anderen Frauen in Rom würde es ihnen eines Tages gestattet sein, eigenen Besitz zu erwerben. Bei Wagenrennen und Gladiatorenkämpfen im Kolosseum erhielten sie die besten Plätze. Und als Teil ihrer Pflichten hatten sie bei zahlreichen öffentlichen Zeremonien den Vorsitz inne, wie auch heute.
An diesem Morgen hatten sie eine Prozession gläubiger Massen hierher zum Ufer des Tiber angeführt und danach auf Pontifex gewartet. Als er dann mit großem Prunk eintraf, bat er die Mädchen, ihre Strohfiguren, Argei genannt, in den Fluss zu werfen. Während der letzten paar Wochen hatten römische Bürger diese einfachen Puppen in den Tempeln abgelegt, damit sie alles Übel, das da lauern mochte, in sich aufnehmen mögen. Seitdem waren die verderbten Puppen gesammelt worden und sollten heute rituell geopfert werden, um die Stadt zu reinigen. Silvia warf ein halbes Dutzend davon in den Tiber; sie lachte und neigte sich in kindlichem Entzücken nach vorn, um zuzusehen, wie sie ins Wasser fielen. Weitere Vestalinnen – Aemilia, Floronia und Michaela – taten es ihr gleich und machten es zu ihrem Spiel.
»Wer ist der Mann, der dich anstarrt?«, fragte Occia und stieß sie mit dem Ellbogen an.
Silvia sah auf und war überglücklich, ihren Vater zu sehen. Seit sie in den Tempel gekommen war, hatte sie keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern gehabt. Bei seinem Anblick wollte sie losrennen zu ihm, doch schnell fand sie sich von Pontifex’ Hand zurückgehalten. »Vater!«, rief sie und versuchte, sich loszureißen, um zu ihm zu kommen. Er stand nur ein paar Meter von ihr entfernt, den Blick auf sie gerichtet.
»Sag ihr, wie die Dinge stehen, Bruder«, befahl Pontifex hinter ihr.
Ihr Vater sah zwischen Pontifex und ihr hin und her. Dann sagte er sanft und mit vernichtender Endgültigkeit: »Ich bin nicht länger dein Vater, Silvia.«
Seine Worte trafen sie wie Giftpfeile, und sie wich zurück, als hätte er sie geschlagen. Was war denn nur so schrecklich an ihr, dass ihr eigen Fleisch und Blut sie nicht lieben konnte? Das wollte sie ausrufen. Doch sie flehte ihn nicht an. Stattdessen verschloss sie ihr Herz und gelobte im Stillen, nie wieder auf die Liebe zu vertrauen.
Sie drehte sich um und ging wieder zu den anderen – ohne dabei zu bemerken, dass zwei Augenpaare brennend vor Verlangen auf ihren Rücken gerichtet waren.
6
A ls Bastian am nächsten Morgen bei Tagesanbruch das Zelt betrat, fand er seinen Sessel besetzt vor, ein Mantel in Kindergröße hing an seinem Garderobenständer, und die Melodie einer grob gefertigten Schilfrohrflöte tanzte durch die Luft.
»Hoch mit dir, Schlingel«, befahl er.
Die Melodie verstummte mitten im Ton, als sein neuester und jüngster Angestellter herumschwang und dabei die Pergamentblätter, die er durchgesehen hatte, verstreute. Eines flatterte zu Boden, und der Junge beeilte sich, es aufzuheben, bevor sein Hund es erwischte.
»Was machst du mit den Blättern?«, verlangte Bastian zu wissen.
Rico besah sich kurz die Kollektion erotischer Illustrationen auf dem Schreibtisch. Er hob eine Augenbraue und ließ die Flöte geistesabwesend zwischen seinen Fingern von einer Seite zur anderen und wieder zurück wandern, mit einer Geschicklichkeit, die verriet, dass er das nicht zum ersten Mal tat. Dann warf er Bastian einen lauernden Blick zu. »Bessere Frage wäre wohl, was machst du mit ihnen?«
»Das sind unbezahlbare Lithographien.« Bastian hängte seinen Mantel an den Ständer über den Kindermantel und bedeutete dem Jungen mit einem Wink, den Sessel zu räumen. Rico lachte und meinte: »Nimm den anderen.« Er wollte an Bastian vorbeischlüpfen, doch der versperrte ihm den Weg und hielt ihm die flache Hand entgegen, Handfläche oben. »Gib mir das.«
»Wollte nicht stehlen.« Der Wichtel ließ das dicke Pergamentblatt direkt über Bastians Hand fallen, so dass es auf seine Handfläche glitt.
Bastian sah flüchtig hin und war augenblicklich
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