Das Herz des Satyrs: Roman (Knaur TB) (German Edition)
sprachlos. Die Lithographie hatte sich dramatisch verändert, seit er sie das letzte Mal betrachtet hatte. Genauer gesagt, seine Wahrnehmung hatte sich verändert. Vorher hatte er sie nur in Schwarz und Weiß gesehen. Jetzt allerdings war sie in prächtig leuchtende Farben getaucht. Einfach nur, weil dieser Junge sie in der Hand gehalten hatte. Begierig schweifte Bastians Blick über die Blätter, die über seinen Schreibtisch verstreut lagen, und er sah, dass sie ihm alle nun in Farbe erschienen. Er beugte sich über den Tisch, blätterte sie durch und versuchte, sich die Farben einzuprägen, die auf einen Mann, der sie noch nie gesehen hatte, wie seltene, kostbare Juwelen wirkten. Es war leicht zu erkennen, welche der Blätter Rico zuletzt berührt hatte, denn deren Farben waren die lebhaftesten und üppigsten. Doch sie alle verblassten schnell.
Er betrachtete die Illustration in seiner Hand. Sie zeigte in leuchtenden Farben drei Liebende in einer ménage à trois – das ewige Dreieck. Zwei der Gestalten stehend, eine dritte liegend. Letztere war weiblich, eine Kurtisane, auf einer Matratze auf dem Rücken liegend und bereit, ihren Liebhaber in sich aufzunehmen. Einer ihrer wohlgeformten Knöchel lag auf der Schulter eines Mannes, der mit dem Gesicht zu ihr zwischen ihren Beinen stand. Sein Schwanz war gut erkennbar dabei, sich in ihr zu versenken, während ein zweiter Mann gleichzeitig hinter ihm stand, um in ihn einzudringen. Das Ganze war sorgfältig und geschmackvoll arrangiert, beinahe im Stil einer medizinischen oder botanischen Zeichnung.
»Stimmt was nicht?«, fragte Rico mit gerunzelter Stirn.
»Es ist nichts«, antwortete Bastian automatisch. Um die Tatsache, dass er farbenblind war, zu verbergen, hatte er sein Leben lang zu Ausflüchten und Vorwänden greifen müssen. Doch es war notwendig gewesen. Ein Archäologe, der nicht in der Lage war, die Feinheiten verschiedener Farben zu erkennen, hätte nicht zum Leiter der prestigeträchtigen Ausgrabungen auf dem Forum aufsteigen können, so wie er.
Nur sein Vater hatte Bescheid gewusst. Bastian hatte nie einer lebenden Seele davon erzählt, nicht einmal seinen Brüdern. Sein Vater hatte früh erkannt, dass dieser Umstand sich nachteilig auf die ansonsten vielversprechende Karriere seines ältesten Sohnes auswirken könnte, und ihm daher geraten, Stillschweigen darüber zu bewahren. Er hatte Bastian beigebracht, jede Farbe allgemein auf der Grundlage ihrer Wertigkeit zu bestimmen. Und als Bastian dann auf sich gestellt war, hatte er noch andere Methoden gelernt, seine Farbenblindheit wettzumachen. Er hatte hohes Geschick darin entwickelt, andere mit Tricks dazu zu bringen, ihm die Farbe eines Objekts zu verraten, wenn er sie erfahren wollte.
Oft engagierte er Künstler, um detaillierte Farbbeschreibungen über Artefakte, die er gefunden hatte, zu verfassen, unter dem Vorwand, dass er zu beschäftigt sei, um die Berichte selbst zu schreiben. Im Laufe seiner Karriere hatte er es sogar geschafft, den Makel in einen Vorteil zu verwandeln. Es war eine Ironie, dass er inzwischen bekannt war für seine sorgfältige Beschreibung von Pigmenten.
Ein Gefühl von Trauer stieg in ihm auf, als er zusah, wie die restliche Farbe langsam aus der Zeichnung in seiner Hand schwand – das Karmesinrot, das aus dem Vorhang hinter der Frau und dem Kissen neben ihr sickerte; das rosige Fleisch der drei Liebenden, das langsam zu Grau wurde. Es war, als würde er etwas sterben sehen.
Mit einer abrupten Handbewegung warf Bastian das Blatt auf den Schreibtisch. »Sie gehören zu einer Serie, die von Édouard-Henri Avril illustriert wurde. Ich habe vor zwei Jahren eine akademische Studie über sie durchgeführt und diese vor der Verehrten Gesellschaft der Anderweltantiquare präsentiert.«
Rico grinste. »Ich möchte wetten, dass die meisten Bewunderer von Avrils Arbeit nicht von der akademischen Sorte waren.«
Bastian lächelte. »Der Lauf der Zeit hat in der Tat den Effekt, die Wahrnehmung von Dingen zu verändern. Gebrauchsobjekte werden zu Artefakten. Etwas, das einst als Pornographie galt, wird zu Kunst.«
»Das ist keine Kunst.«
»Was ist es dann?«
»Vögeln«, antwortete Rico. Dann warf er Bastian wieder einen dieser merkwürdig verlegenen Blicke zu, als sei er über die Worte bestürzt, die er ausgesprochen hatte. Aber er fing sich schnell wieder und fuhr fort: »Und wenn du jemanden, der nicht mal halb so alt ist wie du, fragen musst, dann brauchst du mehr als
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