Das Herz des Satyrs: Roman (Knaur TB) (German Edition)
»ich lüge nicht.«
»Nein, du stiehlst nur.«
Rico zuckte mit den Schultern. »Umso mehr ein Grund, mich in deiner Nähe zu behalten, wenn du das von mir denkst. Damit ich mich nicht einfach mit irgendwas aus dem Staub mache.«
»Ich vermute, wenn ich dich frage, wo, zur Hölle, du so schreiben gelernt hast, wirst du mir mit ›Ich weiß nicht‹ antworten.«
Die Miene des Jungen veränderte sich zu einer Mischung aus erwachsener Gerissenheit und jugendlicher Unschuld. »Stimmt genau. Ich wurde einfach mit dem Wissen über einige Dinge geboren. Sehr mysteriös, das Ganze. Ich kann auch zeichnen, und das, ohne dass man es mich je gelehrt hat.« Er tippte auf den Stapel Ausgrabungskarten auf Bastians Schreibtisch. »Wenn du in dem Schmutz auf dem Forum etwas findest, könnte ich es aufzeichnen und die Schreibarbeit für dich erledigen. Dir damit etwas Zeit und deinen alten Augen die Anstrengung ersparen.«
Bastians eben erwähnte Augen verengten sich. Die Talente des Jungen entsprachen exakt dem, was er brauchte, und außerdem war er unter verdächtigen Umständen hierhergekommen. Das passte alles zu gut zusammen. »Die Dokumentation eines Fundes in situ erfordert sehr genaues Arbeiten. Dazu braucht es Übung.«
»Gib mir etwas zu zeichnen, und ich beweise dir, dass ich es kann«, prahlte Rico.
Wenn es schon ratsam war, den Jungen im Auge zu behalten, konnte er dabei ebenso gut Gebrauch von irgendwelchen Talenten machen, die dieser besaß. Also stand Bastian auf, nahm seinen Mantel und steuerte auf den Zelteingang zu. »Gut, komm und nimm ein paar dieser Karten und einen Stift mit. Wir werden sehen, ob wir deinen Verstand gewinnbringender nutzen können.«
Als sie aus dem Zelt traten, musterte Bastian den feinen Mantel, den Rico trug, sich aber sicher nicht leisten konnte. »Woher kommt der Mantel?«
»Habe ihn gefunden, heute Morgen erst. Ganz unerwartet.«
»Darauf wette ich.«
Als sie über das Gelände zur Ausgrabungsstätte des Tempels der Vesta schritten, warf der Vorarbeiter dem Jungen einen bösartigen Blick zu. Rico lachte nur und winkte. »Dein Signor Ilari sieht etwas enttäuscht aus, mich wiederzusehen.«
»Kannst du es ihm verübeln?«
»Ich habe meine Arbeit gemacht.«
»Ja, und ich habe gehört, wie du sie gemacht hast. Mit ständigem Gemurre.«
»Seine Methoden sind archaisch.«
»Du hast einen ziemlich guten Wortschatz, wenn es dir passt«, sagte Bastian.
»Ich lerne schnell. Und du musst zugeben, dass er ein idiota ist. Wohin gehen wir?«
Als Silvia plötzlich bemerkte, dass Bastian mehrere Meter hinter ihr zurückgeblieben war, ging sie auf dem Weg zurück und sah ihn, wie er eine Kelle in die Erde stieß.
Innerhalb von Minuten hatte er ein beachtliches Stück eines Freskos zutage gefördert, das er ihr gab.
Überrascht sah sie von dem Fresko zu ihm. »Woher wusstest du, wo du …?«
»Skizziere das auf deiner Karte«, unterbrach er sie. »Du hast drei Minuten.«
Sie setzte sich mit überkreuzten Beinen auf den Boden und fertigte eine sorgfältige Grobzeichnung des Bildes an; danach übergab sie ihm die Karte und stand auf, um sein Urteil zu erwarten.
Er betrachtete ihr Werk einen Augenblick, nahm ihr dann das Fragment ab und übergab es Ilari, der herangekommen war, um das Ganze zu beobachten. Der Mann nickte mit widerwilliger Bewunderung.
»Habe ich doch gesagt, dass ich zeichnen kann«, meinte sie, an Bastian gerichtet.
»Neben die Zeichnung schreiben wir ihren Maßstab«, war seine Antwort. »Um anzuzeigen, dass das Fragment selbst etwa dreimal so groß wie deine Zeichnung ist, schreiben wir 3:1. Wenn das Gegenteil der Fall wäre …«
»Hätte ich eine größere Karte gebraucht.«
»Und du hättest 1:3 dazugeschrieben«, fuhr Bastian fort. »Hier in der linken oberen Ecke notieren wir die Tiefe, in der ein Artefakt gefunden wurde, und das ungefähre Datum des Stückes selbst. Nachdem wir also dieses Fragment nahe der Oberfläche gefunden haben, notieren wir Level eins, und ich schätze sein Alter auf dreihundertfünfzig nach Christus.« Er schrieb die Daten in sauberer Handschrift auf.
Silvia sah ihm schweigend zu und trat dabei unruhig von einem Fuß auf den anderen, in dem drängenden Wunsch, ihn zu korrigieren. Sie hätte ihm genug erzählen können, um diese Karte und noch zehn weitere zu füllen. Das Fresko stammte von einer Wand im Atriumhaus. Es war von einem Künstler geschaffen worden, der nach Knoblauch gerochen und zwölf weiße Katzen besessen hatte.
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