Das Herz des Satyrs: Roman (Knaur TB) (German Edition)
Wirt brauchen, und zwar innerhalb eines Tages. Doch für den Augenblick waren die Stimmen der Sterbenden verstummt. Das passierte manchmal, dieses Schweigen potenzieller Wirtskörper. Also eilte sie in ihrer unsichtbaren Gestalt zu Bastians Haus, in der Hoffnung, Michaela dort zu finden. Doch stattdessen fand sie nur Sal vor, der ihren Duft nicht mehr erkannte, aber ihre Präsenz wahrnahm und sie über die Flure jagte.
»Aus!«, rief sie ihm zu. Für Sterbliche war ihre Stimme nicht wahrnehmbar, für Tiere hingegen schon. Und so wurde auch Sal still und neigte den Kopf, als sie weiterging. Sie lief durch den Hauptflur, zog jede Tür auf, an der sie vorbeikam, und rief nach Michaela. Im Arbeitszimmer auf dem Schreibtisch fand sie schließlich eine Notiz von Michaela, an Bastian gerichtet, neben jener, die sie selbst, Sal betreffend, für ihn hinterlassen hatte. Ohne Skrupel überflog sie die Notiz und las laut: »Sie hat ihre Pläne geändert. Sie will ihn in der Suburra treffen, direkt vor Beginn der Rufnacht.« Sie schaute Sal an. »Aber warum nur?«
Die Suburra war ein Vorort von Monti, einem Stadtviertel in Rom. Die Gegend hatte einen schlechten Ruf, denn wer dorthin ging, suchte Glücksspiel, eine Prostituierte oder kriminelle Geschäfte. Obwohl es wenig Sinn ergab, dass Michaela sich des Nachts in dieses Viertel wagen sollte, legte Silvia die Notiz zurück und lief auf die Tür zu.
Auf dem Weg aus dem Zimmer stolperte sie über eine Karaffe, die auf dem Boden lag. Die blutrote Flüssigkeit, die sie enthalten hatte, war ausgelaufen und bildete Flecken auf einem unbezahlbaren Teppich, den sie als Werk aus der Anderwelt erkannte.
Das sieht dem ordnungsliebenden Herrn Satyr aber so gar nicht ähnlich, dachte sie. Sie hob das geschliffene Kristallgefäß auf und schnupperte daran. Natürlich erwartete sie, Wein zu riechen, nachdem die Satyrn schließlich als Winzer bekannt waren. »Verdammt.« Sie hatte ganz vergessen, dass sie ja nichts riechen konnte. Schnell nahm sie körperliche Form an und schnupperte wieder. Nun, es war zwar Wein, doch er roch anders als jedes alkoholische Getränk, dem sie je begegnet war. Er roch bitter, mehr wie ausgepresste unreife Oliven, gemischt mit verschiedenen Gewürzen aus der Anderwelt und noch etwas Unbestimmbarem. Ein Hauch von … Oger? Sie rümpfte die Nase, und dann fiel ihr auf, dass der Ogergeruch sich nur auf der Oberfläche des Kristallgefäßes befand, nicht in der Flüssigkeit selbst, die eine Art alkoholisches Getränk war. Wer würde ein solches Gebräu trinken?
Aber dieses Rätsel war augenblicklich vergessen, als das Geräusch von Pferden und Kutschenrädern an ihr Ohr drang und sie gleich darauf hörte, wie sich die Vordertür öffnete. Sie legte die Karaffe so zurück, wie sie sie vorgefunden hatte, und spähte auf den Flur. Stimmen, männlich und weiblich, drangen an ihr Ohr. Lautlos schlich sie zur Treppe und sah, dass Bastians Brüder – alle drei – und eine einzelne Frau angekommen waren.
Sal sprang auf sie zu. »Seit wann hat Bastian einen Hund?«, hörte sie den Bruder fragen, den sie noch nicht kannte. Er bückte sich und kraulte Sal spielerisch an den Ohren. Silvia lächelte in sich hinein; sie wusste, dass der Mann soeben einen Freund fürs Leben gewonnen hatte, denn es gab kaum etwas, das Sal noch mehr genoss als das. Sie hatte den vierten der Brüder, Dane, nie getroffen, doch offenbar war er das, und die Frau, die er so zärtlich im Arm hielt, musste seine Frau sein.
Silvia wollte gerne bleiben und sie beobachten, doch andere Dinge erforderten ihre Aufmerksamkeit. Sie wandte sich ab, verließ das Haus durch die Hintertür und machte sich auf den Weg nach Monti.
Ihre Füße flogen förmlich über den Boden, vorbei an Brunnen, Kirchen, Schaufenstern, Palazzi, über Treppen und gepflasterte Plätze, wo Menschen sich beeilten, ihre Zielorte zu erreichen, bevor es anfing zu regnen. Wenn sie doch nur ihren Feuerstein hätte. Occia hatte einmal die Bemerkung fallenlassen, dass sich mit seiner Hilfe ein Feuertor in dieser Welt erschaffen ließe. Wenn das stimmte, dann würde ihre Reise viel schneller verlaufen! Bis zum Aufgehen des Mondes waren es noch mindestens anderthalb Stunden. Viel Zeit, um Michaela zu finden, bevor die sich mit ihrem Liebsten den Wonnen der Nacht hingab. Bis Bastian auftauchte, wollte Silvia längst weg sein. Denn die beiden noch in intimer Umarmung zu beobachten wäre mehr, als sie in ihrem aufgewühlten Gemütszustand
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