Das Herz des Satyrs: Roman (Knaur TB) (German Edition)
ertragen konnte.
Silvia bog um die Ecke eines Uhrmacherladens und kam schlitternd auf der nebelfeuchten Straße zum Stehen. Zwei Kurtisanen hinter ihr liefen einfach weiter und gingen einfach durch sie hindurch; sie würden niemals erfahren, dass sie soeben einer Geistwandlerin begegnet waren. Auch Silvia nahm kaum Notiz von den beiden, denn ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf den hochgewachsenen, breitschultrigen Herrn, der knapp fünf Meter vor ihr stand – ihr ehemaliger Arbeitgeber, Herr Bastian Satyr höchstpersönlich!
Einen Augenblick lang vergaß sie, dass er sie nicht sehen konnte, und suchte Deckung im Schatten der Ladentür. Und dort gab sie einen Moment lang ihrer kläglichen Sehnsucht nach, ihn einfach nur zu betrachten. Auch die Kurtisanen beäugten ihn, und warum auch nicht? Männer, so gutaussehend und reizvoll wie er, waren in beiden Welten ein seltener Anblick.
Er hielt den Kopf gesenkt und starrte auf etwas in seiner Hand. Im Licht der Straßenlaterne blitzte dieses Etwas auf wie … Feuer. Götter! War es etwa einer von Vestas Steinen? Bevor sie jedoch etwas Bestimmtes ausmachen konnte, steckte er es in die Tasche.
Nur von dem Gedanken beseelt, den Gegenstand zu besitzen, eilte Silvia auf ihn zu und schob eine Hand in die Tasche, in die er ihn gesteckt hatte. Doch – natürlich – sie war ja unsichtbar, und ihre Hand drang direkt durch den Hosenstoff und das Fleisch darunter. Und durch den Stein, wenn es denn wirklich einer war. Verdammnis! Was auch immer er da hatte, solange sie unsichtbar war, konnte sie es sich nicht holen.
Verzweifelt sah sie sich auf dem Platz um. Sie brauchte einen Wirt, und zwar auf der Stelle. Zum ersten Mal in ihrem Leben ertappte sie sich dabei, dass sie sich beinahe wünschte, irgendjemand möge doch bitte ganz schnell sterben! Sollte heißen, wenn es ohnehin schon so bestimmt war. Ein Zusammentreffen mit dem Tod war etwas, worauf sie sich nie freute. Denn die Annahme eines Wirts war eine bestenfalls schmerzliche Erfahrung; im schlimmsten Fall war es grauenhaft.
Als sie so dastand, den Kopf lauschend geneigt, überraschte Bastian sie, indem er plötzlich unbeholfen mit beiden Händen in ihre Richtung zugriff. Natürlich gingen seine Arme durch sie hindurch, aber dennoch sprang sie bei der bestürzenden Wahrnehmung zurück. Und als sie in diesem kurzen Moment miteinander verschmolzen, konnte sie den Ansturm seiner Gefühle wahrnehmen. Er dachte an Farben. Nein, er dachte nicht einfach nur daran. Er sehnte sich danach. Verzehrte sich danach.
»Verdammte Farben. Wollen nicht dableiben. Götter, mein Kopf.« Er torkelte von ihr weg und ließ sich auf eine Stufe nieder, vergrub seinen Kopf in den Händen und fuhr sich mit den Fingern durch Strähnen schwarzen Haares, das feucht im Nebel glitzerte.
Sie ging auf ihn zu, blieb vor ihm stehen und trat dann vorsichtig näher, verblüfft und ein wenig besorgt. »Was ist los mit dir?«, fragte sie leise, ohne eine Antwort zu erwarten.
Er stieß einen entrüsteten Seufzer aus. »Ich weiß nicht.«
»Was soll das heißen, du weißt nicht …« Einen Moment! Er konnte sie hören ? Sie stellte ihn auf die Probe. »Bastian, kannst du mich hören?«
Keine Antwort. Sie richtete sich auf. Natürlich konnte er sie nicht hören. Dass seine Antwort gerade zu ihrer Frage gepasst hatte, war reiner Zufall gewesen. Trotzdem, irgendetwas zwischen ihnen hatte sich verändert. Urplötzlich wurde ihr klar, was es war. Sie schnupperte. Sie konnte ihn riechen ! Zwar konnte sie nur einen Hauch von Alkohol an ihm feststellen, doch sein Verhalten machte deutlich, dass er stark getrunken hatte, bevor er am Abend das Haus verlassen hatte.
Aber das spielte jetzt keine Rolle. Sehnsüchtig schaute sie auf seine Tasche. Sie konnte dem Drang, einen neuen Versuch zu wagen, nicht widerstehen und griff hinein. Als ihre Finger diesmal durch Stoff und Fleisch drangen, fühlte es sich so ähnlich an, als würde sie ihre Hand durch etwas Zähflüssiges bewegen. Als würde sie durch Pudding schwimmen.
Sein Kopf schnellte hoch. Kräftige Finger schlangen sich um ihr Handgelenk. Und dieses Mal bekam er sie zu fassen! »Nein!«, hauchte sie. »Wie ist das möglich?« Sie war unsichtbar . Ungreifbar . Er konnte sie nicht anfassen ! Doch offenbar gehorchte Herr Bastian Satyr nicht länger den Gesetzen der Physik, denn als Nächstes drehte er ihr den Arm um. Blitzschnell hatte er sie mit dem Rücken zu sich gedreht, und sie saß auf seinem Schoß, ihre
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