Das Herz des Südens
dass er dich anhört, wenn du singst. Er arbeitet im Les Trois Frères, einem Club, wo man zu Abend isst. Du wirst ihm heute Abend vorsingen, und vielleicht lässt er dich dann abends auftreten. Was meinst du dazu?«
Cleo legte eine Hand an ihre Kehle. »Vor fremden Leuten singen? Phanor, das habe ich noch nie gemacht! Ich glaube nicht …«
»Nicht lange nachdenken, Cleo, erst mal singst du jetzt Jean Paul vor, heute Nachmittag um zwei.«
Als Phanor gegangen war, ärgerte sich Cleo eine Viertelstunde lang. Sie hatte sich immer vorgestellt, wie es sein würde, wenn sie in einem der tollen Clubs in New Orleans singen würde, aber das war ja nur in der Fantasie gewesen. Jetzt, da sich tatsächlich eine Gelegenheit bot, den Traum wahr zu machen, fragte sie sich, ob sie im entscheidenden Augenblick überhaupt einen Ton herausbringen würde. Endlich ließ sie Gabriel in seiner Kiste schlafen und ging zur Wasserpumpe im Hof. Zurück im Zimmer, wusch sie sich von Kopf bis Fuß und reinigte ihre Kleider, so gut es ging. Dann kämmte sie ihr Haar aus und versuchte, ihr Kopftuch schön zu binden, aber ohne Spiegel wusste sie nicht einmal, ob es einigermaßen gerade saß.
Als sie Phanor auf der Treppe hörte, fuhr sie sich noch einmal schnell mit dem Rocksaum über die Zähne. Das Kleid war ein Erbstück von Josie, und obwohl es ein abgelegtes Teil war, war es noch gut in Schuss. Cleo hatte es am Busen weiter gemacht und ein Stück weiße Spitze über das Mieder gezogen. Sie hatte nur dieses eine Kleid, aber sie fand, dass sie darin ganz manierlich aussah. Jedenfalls nicht wie eine, die weggelaufen war.
Als sie mit Gabriel auf dem Arm durch die Straßen ging, bemühte sie sich, immer ein paar Schritte hinter Phanor zu gehen, damit es so aussah, als wäre sie seine Sklavin. Im Les Trois Frères angekommen, atmete sie tief durch. Der Club war vornehm und üppig dekoriert, und die ganze Situation schüchterte sie schrecklich ein, aber Phanor war an ihrer Seite und stützte sie beruhigend am Ellbogen.
»Der Mann heißt Jean Paul Rouquier, alles klar? Du singst ihm einfach vor, als wäre ich es, der dir zuhört. Er ist ein netter Kerl, ein Kreole, und er braucht dich ebenso sehr wie du ihn. Denk daran.« Er legte die Hand auf den Griff an der Seitentür. »Bist du bereit?«
Cleo nickte. »Ich kann das, Phanor.«
»Ich weiß.«
Sie betraten die kühlen, dämmrigen Räumlichkeiten im hinteren Teil des Clubs und trafen Jean Paul dort an. »Mon ami«, begrüßte er Phanor. »Und das ist unser Singvogel?«
Gabriel schnaubte und rührte sich in Cleos Armen. »Gib ihn mir solange«, sagte Phanor.
Jean Paul betrachtete Cleo unverhohlen. »Sie ist wirklich sehr hübsch, Phanor, genau wie du gesagt hast.« Er deutete mit dem Kinn zum Fenster. »Mehr als hübsch. Wenn sie so singt, wie sie aussieht, dann kommen wir sicher ins Geschäft. Komm, Cleo, der Speisesaal ist um diese Zeit noch leer, da kannst du mir was vorsingen, mir ganz allein.«
Cleo warf einen letzten Blick auf Phanor, der am Fenster saß, aber der war vollkommen mit Gabriel beschäftigt. Sie folgte Jean Paul in den großen Speisesaal, wo silberfarbene Kerzen schon sanftes Licht auf schneeweiße Tischdecken warfen.
Kronleuchter funkelten im Licht der raumhohen Fenster an der nordseitigen Wand, und unter ihnen schluckten dunkle Samtpolster das Licht.
»Da oben«, sagte Jean Paul und deutete auf eine kleine Bühne an der inneren Wand, wo ein Klavier und einige Stühle für die Musiker aufgebaut waren.
Er setzte sich in die Mitte des Saales. »Dann fang mal an.«
Cleo begann, a cappella zu singen.
»Lauter, Schätzchen, lauter«, rief Jean Paul ihr fordernd zu.
Cleo wand sich, weil sie die Gereiztheit in seiner Stimme hörte. Dann begann sie von vorn und legte all ihre Kraft in ihre Stimme.
»Nicht schlecht«, sagte er. »Jetzt stell dich mal an den Rand der Bühne und stell dir vor, du hast zwei oder drei Mann zur Begleitung.« Er stand auf und stellte sich ans Ende des Saales.
Bei den ersten Tönen zitterte Cleos Stimme noch etwas, aber dann nahm sie sich zusammen und verdrängte ihre Aufregung. Sie sang für die Gäste an den hinteren Tischen, stellte sich vor, Phanor säße dort. Oder Bertrand; er ließ sich so gern von ihr vorsingen.
»Reicht schon«, unterbrach Jean Paul ihre Darbietung. Er stand auf, und Cleo folgte ihm zurück zu Phanor, der mit Gabriel im Nebenzimmer auf und ab ging. Die zornigen kleinen Fäuste des Babys landeten immer wieder einmal
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