Das Herz einer Löwin: Roman (German Edition)
die andere Schulter und kämpfte sich weiter vorwärts. Sie blickte sich um. In den Büschen und den spärlichen Grasflecken bewegte sich nichts. Es gab keine Anzeichen für Raubtiere. Sie hatte keine Angst davor, nachts allein herumzulaufen – und da sie bei den Löwen gelebt hatte, hatte sie auch viel von ihrer Angst vor wilden Tieren verloren. Aber ohne die Jungen, die ihr um die Knöchel tollten, und ohne Moyo in Sichtweite vor sich, fühlte sie sich sehr allein.
Bald würde sie wieder bei Mama Kitu sein, sagte sie sich. Sie stellte sich vor, wie bequem sie auf ihr reiten würde, mit richtig gepackten Satteltaschen hinter sich. Matata würde ihnen folgen. Sie hätte keinen Hunger, keinen Durst, und sie wäre nicht mehr so einsam. Während sie durch die Wüste zogen, stünde ihr immer die süße Milch zur Verfügung.
Das Gewicht des Sacks drückte ihr auf ihre Schulter, als wolle er ihr die Knochen brechen. Die andere Schulter schmerzte ebenfalls bereits. Angel versuchte, den Beutel auf dem Kopf zu balancieren, aber die Tasche war nicht voll genug, und die Ecken hingen herunter und verdeckten ihr die Sicht. Sie hatte das Gefühl, schon seit einer Ewigkeit unterwegs zu sein, aber sie näherte sich gerade erst dem Gipfel des ersten Hügels.
Als sie endlich oben angekommen war, seufzte sie erleichtert auf. Sie wischte sich den Schweiß vom Gesicht und blickte in die Ferne zu dem löwenförmigen Hügel. Erschrocken riss sie den Mund auf. Eine weite Ebene erstreckte sich vor ihr, eine flache, endlose silbergraue Fläche. Der Hügel war viel weiter weg, als es vom Camp aus ausgesehen hatte. Dumpf starrte Angel vor sich hin. Vielleicht sollte sie wieder umkehren. Wenn sie sich beeilte, würde niemand merken, dass sie überhaupt weg gewesen war. Aber sie wusste, sie hatte nur diese eine Chance.
Du bist doch ein hartnäckiges Mädchen, rief sie sich ins Gedächtnis. Laura hatte das so oft zu ihr gesagt. Angel suchte in sich nach dieser Eigenschaft, die ihre Mama ihr zugesprochen hatte. Sie stellte sich vor, wie sie immer weiter wuchs wie ein Feuer, in das man hineinpustete. Die Nonnen hatten sie auch immer als hartnäckig bezeichnet – sie hatten gesagt, wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hätte, würde sie nicht lockerlassen, bis sie es erreicht hätte. Diese Worte hielt Angel fest, während sie weiterging, wie einen Zauberspruch, der sie auf dem Weg hielt.
Nicht lockerlassen. Niemals.
17
E mma starrte zum Himmel. Dunkelblau spannte er sich über ihr, mit einem großen gelben Mond. Sie lauschte in die Nacht und fragte sich, wodurch sie aufgewacht war. Von Georges leisem Schnarchen abgesehen, herrschte tiefe Stille. Dann hörte sie es – ein unheimlicher Laut, ein irres, wildes Lachen, das von irgendwo außerhalb des Camps kam. Eine Hyäne, dachte Emma. Sie gaben doch Laute ähnlich wie Lachen von sich. Emma blickte zu Daniel und George. Beide schliefen friedlich. Sie drehte den Kopf zu Angel und fuhr, plötzlich hellwach, in die Höhe. An der Stelle, wo Angel geschlafen hatte, sah sie nur zwei Löwenjunge, die eng aneinandergedrängt dalagen. Angel, Moyo oder das dritte Junge waren nirgendwo zu sehen. Emma blickte auf die Uhr. Kurz nach drei. Sie brauchte die anderen nicht zu wecken, sie wusste ja, dass im Camp nichts passieren konnte. Leise stand sie auf, schlüpfte in ihre Stiefel und schnürte sie zu.
Rasch ging sie über den mondbeschienenen Boden und schaute sich überall um. Am Tor sah sie Moyo. Die Löwin saß am Maschendrahtzaun und starrte hinaus. Das Junge saß neben ihr und ahmte ihre wachsame Haltung nach. Angel war nicht da.
Emma verfiel in Laufschritt. Als sie näher kam, versuchte sie zu sehen, was Moyos Aufmerksamkeit fesselte. Ihr Blick schien auf den Hügel hinter dem Camp gerichtet zu sein.
Neben Moyo blieb Emma stehen. Ein Schauer rann ihr über den Rücken. Im Mondlicht wirkte die Löwin fremd und bedrohlich. Emma wollte gerade vorsichtig zurückweichen, als Moyo den Kopf zu ihr drehte. Sie stupste Emmas Schulter mit dem Maul an – eine Geste, die drängend und ungeduldig wirkte. Ein Stöhnen drang tief aus ihrer Kehle. Emma wurde klar, dass Moyo sich Sorgen machte und erleichtert war, Emma zu sehen.
Zögernd blickte Emma in die großen Augen, die im Mondlicht grüngolden schimmerten. Der Löwin schien es nichts auszumachen. Sie erwiderte den Blick, und Emma dachte, dass nicht der Schrei einer Hyäne sie geweckt hatte, sondern Moyo sie gerufen hatte. Und Emma hatte
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