Das Herz einer Löwin: Roman (German Edition)
den Ruf gehört. Einen Moment lang starrte sie die Löwin an, dann stupste Moyo sie erneut.
Emma schüttelte ihre Benommenheit ab. Sie drehte sich zum Tor und sah, dass die Kette vom Schloss abgenommen worden war und der Schlüssel im Schloss steckte. Dann sah sie Angels Spuren im Sand vor dem Tor. Sie führten weg vom Camp, waren aber auf dem harten Untergrund bald nicht mehr zu sehen.
»Wo ist sie?«, flüsterte Emma.
Sie kniff die Augen zusammen und blickte in die Ferne. Kaum sichtbar gegen den grauschwarzen Himmel, entdeckte sie eine dünne Rauchsäule, die hinter dem Gipfel des Hügels geradewegs in die stille Nachtluft aufstieg.
Emma starrte auf den Rauch. Das Feuer war nicht zu sehen, aber sie stellte sich vor, wie Angel dort saß, allein in der Nacht, und mit ihren kleinen Händen Zweige in die Flammen warf. Tausend Fragen gingen ihr durch den Kopf. Rasch lief sie zum Bett, um ihre Kleider zu holen. Eigentlich wollte sie die anderen wecken, denn es war viel zu riskant, allein aufzubrechen. Aber sie war sich klar darüber, dass Moyo sie ausgewählt hatte. Wenn die Löwin gewollt hätte, hätte sie ja auch George wecken können.
Sie knöpfte ihre Bluse zu, als sie wieder bei Moyo ankam, stieß eines der Tore auf und blieb stehen, um zu warten, ob die Löwin mitkommen würde. Moyo jedoch wich zurück und zeigte dadurch an, dass sie bei ihren Jungen bleiben wollte, aber sie gab sanfte, ermunternde Laute von sich. Emma schloss das Tor und marschierte auf den Hügel zu.
Sie ging schnell. Es fiel ihr nicht schwer, im Mondschein ihren Weg zu finden. Und nach ihren vielen Besuchen im Fitness-Studio war sie gut trainiert. Angel war zweifellos genauso fit, aber ihre Beine waren kürzer. Emma vermutete, dass sie etwa vor zwei Stunden aufgebrochen war. Sie fragte sich, warum Moyo so lange gewartet hatte, bis sie Emma hinter ihr herschickte. Vielleicht war sie unentschieden gewesen, ob sie sich in Angels Plan einmischen sollte. Vielleicht hatte die Rauchsäule sie alarmiert. Aber Moyo war nur ein Tier, dachte Emma. Sie war zu solchen Gedanken nicht fähig. Und doch widersprach die Realität dessen, was Emma mit eigenen Augen gesehen hatte, dieser allseits akzeptierten Ansicht. Moyo war definitiv fähig, abstrakt zu denken und sich die Zukunft vorzustellen. Mittlerweile schien es Emma so, als ob George tatsächlich recht hätte: Die Löwin verfügte über einen sechsten Sinn – einen Sinn, den die Menschen entweder nie besessen oder im Laufe der Evolution verloren hatten.
Emma lief in gleichmäßigem Rhythmus auf die Rauchsäule zu. Als sie nicht mehr weit vom Gipfel des Berges entfernt war, blieb sie stehen, um zu Atem zu kommen. Sie konnte den duftenden Holzrauch riechen und sah die roten Funken in der Luft tanzen.
Spannung stieg in ihr auf. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen oder tun wollte. Sollte sie auf das Kind einreden, es solle vernünftig sein und mit ihr zurück zum Camp kommen? Würde sie sie mit Gewalt dorthin zurückzerren, wenn es nötig wäre? Eigentlich wusste sie gar nicht, warum sie gekommen war. Sie hatte das Gefühl, nichts Nützliches anbieten zu können. Sie wusste nur, dass sie hier sein musste – dass sie hier sein musste.
Schließlich erreichte sie den steinigen Sattel des Hügels. Sie blieb stehen und blickte auf das Feuer, das ganz nah war. Angel kniete daneben, ihr Gesicht schimmerte rosig im Flammenschein. Im Mondlicht schienen ihre blonden Haare zu strahlen.
Als ob sie Emmas Anwesenheit spüren würde, hob Angel den Kopf. Stumm blickte sie Emma an. Das Funkeln in ihren blauen Augen war verschwunden.
Emma trat ans Feuer.
»Mein Topf ist kaputt.« Angels Stimme klang dumpf. Sie wies auf einen Haufen von Tonscherben, die aussahen wie seltsam scharfkantige Blütenblätter. »Jetzt kann ich nicht weitergehen. Ich kann weder Reis noch Bohnen kochen.«
Bei den Überresten des Topfs entdeckte Emma einen alten Sack, dessen Boden aufgerissen war. Durch den großen Riss sah man eine Wasserkalebasse und etwas, das in ein Stück Stoff eingewickelt war.
»Der Sack hat nicht gehalten«, sagte Angel. »Er war zu alt. Ich habe ihn mir nicht richtig angeschaut.« Stirnrunzelnd blickte sie ins Feuer.
»Kann ich mich zu dir setzen?«, fragte Emma.
Angel zuckte mit den Schultern. »Wenn du willst.«
Emma schob einen großen, glatten Stein neben Angel, setzte sich und schlug die Beine übereinander. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie das Kind.
Angel stocherte mit einem Stock an einem
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