Das Herz einer Löwin: Roman (German Edition)
sie an Moyo. Er war ein starker Mann, dachte Angel, und er war bestimmt ein zuverlässiger Freund.
Bei der weißen Dame war sie sich nicht so sicher. Es beunruhigte sie, wie sie sie anschaute – als ob sie ständig versuchte, ihre Gedanken und Gefühle zu lesen. Wie war ihr Name? Angel formte das Wort mit den Lippen. Em-mah. So wie er klang, hätte es ein Swahili-Name sein können. Nicht wie Laura – diesen Namen fanden Afrikaner zu weich, zu formlos. Sie sagten immer, er passe nicht zu der Kameldame.
Angel schloss die Augen, als die Erinnerung sie überwältigte. Sie waren in ein Dorf gekommen, sie und Laura. Beide ritten sie auf Mama Kitus Rücken. Alle Mütter, Väter, Kinder und alten Leute kamen aus ihren Hütten oder aus ihren Gemüsegärten, um die Kameldame willkommen zu heißen. Die Leute, die sie kannten, lächelten und hoben grüßend die Arme – manche sangen und tanzten. Sie nannten sie Malaika, als ob der Name zu ihr gehörte und nicht zu ihrer Tochter. Angel spürte, wie Tränen hinter ihren Augen brannten, aber sie wusste, sie konnte es sich nicht leisten, zu weinen. Sie musste stark bleiben. Sie packte die schmerzlichen Gedanken mit den Händen wie Grasbüschel und warf sie beiseite.
Sie versuchte, sich auf Emma zu konzentrieren. Die Frau fühlte sich hier im Lager nicht wohl; anscheinend war sie an Betonböden und Wände aus Lehmziegeln gewöhnt. Ständig achtete sie darauf, wo sie hintrat, oder blickte nach oben, weil sie überall Gefahren befürchtete. Und die ganze Zeit über behielt sie ihre grüne Tasche im Auge. Sie holte Papiertaschentücher, Lippenbalsam und spezielle Tücher, mit denen man sich die Hände abwischen konnte und die, schon feucht, in einem Päckchen steckten. Sie war nicht wie eine der Frauen auf Safari – sie hatte keine Kette, keine Sonnenbrille und keinen Lippenstift. Aber sie war auch nicht wie Laura. Angel erinnerte sich daran, was Emma gesagt hatte, als sie alle in der Höhle waren – dass sie wegen Mama Kitu und Matata da war. »Die Kamele haben mich gefunden«, hatte sie gesagt. Und es hatte so geklungen, als ob die Kamele sie speziell ausgesucht hätten.
Eine Welle der Sehnsucht überspülte sie, als sie an die Kamele dachte. Der Massai hatte ihr gesagt, sie seien in der Station. Dort seien sie in Sicherheit, und sie würde sie bald sehen. Angel stellte sich vor, wie sie ihre Wange an Mama Kitus Nase reiben würde … die Schnurrhaare würden sie kitzeln. Rasch rief sie sich zur Ordnung. Es war wichtig, einen Schritt nach dem anderen zu tun. Das hatte ihr Walaita während ihrer langen Krankheit beigebracht: Wenn man sich die ganze lange Reise, die vor einem lag, vorstellte, wurde selbst der erste Schritt zu einer unmöglichen Aufgabe.
Angel setzte sich auf und lehnte sich an Moyos Schulter. Was war der erste Schritt? Wo sollte sie beginnen …
Moyo hat dich hier ins Camp gebracht. Sie wusste, dass es ein guter Ort ist, und sie wollte, dass du hier bist.
Angel stellte sich vor, wie sie Ndisi beim Kochen half, das kanga für das Stew rupfte, Fleisch in den Kühlschrank stapelte. Solche Aufgaben beherrschte sie. Sie könnte sich hier so nützlich machen, dass Lawrence und Ndisi sich bald nicht mehr vorstellen konnten, wie sie ohne sie zurechtgekommen waren.
Sie würde immer höflich sein. Sie würde nicht mit ihnen über Laura sprechen. Sie würde nie weinen und auch kein trauriges Gesicht machen. Sie musste ihnen zeigen, wie vernünftig und erwachsen sie war, weil sie sie sonst vielleicht nicht hierbehalten würden. Beim Essen hatte sie beinahe schon alles verdorben, als sie angefangen hatten, über das Fieber zu sprechen. Sie hatte einen Kloß im Hals gespürt, als sie die Erinnerung an damals angesprochen hatte – Laura, die ihre blutverschmierten Kleider nicht berührte, Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Angels Herz hatte sich zusammengekrampft, und Tränen hatten hinter ihren Augen gebrannt. Es war ein Glück gewesen, dass Girl gerade diesen Moment gewählt hatte, um auf George Lawrence’ Schoß zu klettern. Beinahe so, als hätte das Löwenjunge gemerkt, dass es die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich ziehen musste, um die Trauer, die auf einmal in der Luft hing, zu durchbrechen und die Stimmung wieder zu entspannen.
Angel versuchte, ruhig liegen zu bleiben. Bis jetzt hatte sie noch keine falsche Bewegung gemacht, sagte sie sich. Noch war alles möglich. Sie entwickelte den Plan. Die Kamele konnten hierhergebracht werden. Moyo und
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