Das Herz einer Löwin: Roman (German Edition)
erinnerte Emma an die Katze ihres Nachbarn in Melbourne, ein großer Kater namens Bruno. Er würde sie bestimmt vermissen, dachte Emma. Nachdem Simon zu seiner Expedition in die Antarktis abgereist war, hatte sie begonnen, den Kater mit Futter auf ihren Balkon zu locken. Danach hatte sie ihn in die Wohnung gelassen, so dass er mit ihr auf dem Sofa sitzen und ihr Gesellschaft leisten konnte, wenn sie las oder arbeitete. Simon war allergisch gegen Katzenhaare, und es würde sicher viel Mühe kosten, die Spuren zu beseitigen, aber sie hatte sich einfach an das Tier gewöhnt. Seit sie mit Simon zusammen war, hatte sie den Kontakt zu ihren alten Freunden verloren. Es kam ihr nicht richtig vor, sich nur dann bei ihnen zu melden, wenn er nicht da war, denn wenn er zu Hause war, machten sie alles gemeinsam. Sie brauchten niemand anderen. Emma traf sich manchmal mit ihren gemeinsamen Freunden, wenn Simon weg war, aber sie kam sich dann nicht vollständig vor. Deshalb hatte sie sich angewöhnt, in solchen Zeiten lange zu arbeiten, ins Fitness-Studio zu gehen oder allein zu Hause zu bleiben. Sie wollte genauso wie Simon von niemandem abhängig sein, aber je länger er weg war, desto einsamer fühlte sie sich. Sie hatte sogar schon ein paar Mal ihren Vater angerufen, wobei sie sich einredete, das täte sie nur, um wie jede gute Tochter den Kontakt zu halten. Wie üblich waren die Gespräche unbefriedigend verlaufen, weil jeder dem anderen zu große Gefühlsausbrüche ersparen wollte, als ob der Schmerz, den sie einst erlitten hatten, immer noch zwischen ihnen stünde, bereit, sie von neuem zu verschlingen. Nach diesen Telefonaten hatte sie sich einsamer gefühlt als vorher.
Emma blickte zum Kochfeuer, wo Ndisi und Daniel Brennholz hackten. George sah zu, die Pfeife in der Hand. Sie stellte fest, dass sie in den paar Tagen, seit sie in Afrika war, nur dann allein gewesen war, wenn sie schlief. Sie war von einem Extrem ins andere gefallen. Aber es hatte sie nicht gestört. Eigentlich hatte sie die ständige Gesellschaft genossen. Ihre Gedanken richteten sich auf Daniel. Er war so freundlich zu ihr, so warmherzig und offen. Er strahlte eine innere Kraft aus, aber bei ihm hatte Emma nicht das Gefühl wie bei Simon, seinen Standards entsprechen zu müssen. Wenn sie Hilfe brauchte, konnte sie ihn darum bitten. Letzte Nacht hatte sie in ihrer Hütte lange wach gelegen, dem Rascheln auf dem Strohdach gelauscht und den breiten Spalt unter der Tür beobachtet, falls eine Schlange hereinkäme. Es war zu heiß, um im Schlafsack zu schlafen, deshalb hatte sie sich daraufgelegt. Aber in ihrem dünnen Seidenpyjama fühlte sie sich verletzlich, deshalb hatte sie ständig überprüft, ob das Moskitonetz auch festgesteckt war. Als sie in die Schatten starrte, dachte sie, dass sie bestimmt nicht einschlafen konnte. Aber dann hatte sie sich vorgestellt, dass Daniel nur ein paar Meter von ihr entfernt auf seinem Feldbett lag. Wenn eine Schlange hereinkam oder eine andere Gefahr sich zeigte, konnte sie ihn rufen. Und er würde sofort kommen, das wusste sie. Der Gedanke tröstete sie, und schließlich schlief sie ein.
Emma beugte sich über das Löwenbaby. Das Tier roch nach warmem Staub und Honig und ganz leicht nach Fisch – Lebertran. Mit der freien Hand streichelte sie den kleinen Löwen. Er ließ den Sauger los und blickte sie mit Augen an, die wie geschmolzene Schokolade schimmerten. Zwischen den dunklen Lippen lag seine rosa Zungenspitze. Emma lächelte ihn an. Nach ein paar Sekunden merkte sie, dass Milch aus der Flasche auf ihren Unterarm tropfte. Bevor sie sie wegwischen konnte, begann das Junge, sie abzulecken – rhythmisch schabte die rauhe kleine Zunge über ihre Haut.
»Seine Zunge kitzelt«, sagte sie zu Angel.
Das Mädchen hielt die Flasche ans Maul des anderen Löwenbabys. Ihr Gesichtsausdruck wirkte ernst und konzentriert.
Ohne aufzusehen, sagte Angel: »Sagt niemandem, dass ihr mich gefunden habt.«
Die Worte trafen Emma mitten ins Herz. Sie tat so, als müsste sie das Löwenbaby anders hinlegen, während sie fieberhaft nach einer Antwort suchte.
»Wir müssen«, sagte sie schließlich. »Wir haben keine andere Wahl.«
Angels Kopf fuhr herum. Sie blickte zum Tor und dann den Weg entlang, der zum Camp führte, als fürchtete sie, dass jetzt schon jemand käme und sie mitnähme. »Wann kommen sie?«
»Du brauchst keine Angst zu haben. Wir haben es noch niemandem gesagt«, erwiderte Emma. »Aber die Leute machen sich
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