Das Herz Eines Highlanders
auch schon die ganze Zeit.«
»Ich möchte dich heute Nacht sehen, Jillian. Ich muss dich sehen.«
»Ich werde meine Tür nicht verschließen.« Sie schenkte ihm ein betörendes Lächeln, das den Mond und die Sterne versprach, wenn er käme.
Er sah sie ein letztes Mal zärtlich an und ging.
»Geh du zu ihm. Ich kann nicht«, sagte Ronin eindringlich.
Die beiden Männer sahen aus dem Fenster zu Grimm, der sich über die Burgmauer beugte und auf das Dorf hinabblickte. Die Nacht war angebrochen, und winzige Lichter im Dorf glitzerten wie eine Spiegelung der Sterne, die den Himmel übersäten. Die Burg war so gebaut worden, dass ein ungehinderter Blick über das Dorf gewährleistet war. Eine breite Steinterrasse säumte die äußere Umgrenzungslinie sowohl nach Osten als auch nach Westen. Sie fiel stufenförmig zu den Befestigungsmauern ab und die Terrasse selbst wurde von einer niedrigen Mauer umgeben. Sie befand sich in einer solchen Höhe, dass man von oben das gesamte Tal überblicken konnte. Grimm hatte seit Stunden allein auf der Mauer gesessen und abwechselnd auf die Burg hinter ihm und in das Tal vor ihm geblickt.
»Was soll ich ihm denn sagen«, grunzte Balder. »Er ist dein Sohn, Ronin. Irgendwann musst du mit ihm reden.«
»Er hasst mich.«
»Also rede mit ihm und versuche ihm zu helfen, diesen Hass zu überwinden.«
»So einfach ist das nicht!«, fauchte Ronin, doch in seinen blauen Augen erkannte Balder die Angst. Angst, seinen Sohn aufs Neue zu verlieren, wenn er mit ihm sprach.
Balder betrachtete seinen Bruder einen Augenblick und seufzte dann. »Ich werde es versuchen, Ronin.«
Grimm sah zu, wie das Tal sich zur Nachtruhe begab. Die Dorfbewohner hatten begonnen, Kerzen anzuzünden und die Fensterläden zu schließen, und von seinem Ausguck auf der kleinen Mauer konnte er schwach die Rufe der Eltern vernehmen, die ihre Kinder in behagliche Häuschen heimriefen, und die der Bauern, die ihr Vieh zusammentrieben, bevor sie sich selbst zu Bett begaben. Es war eine Atmo-
Sphäre voll Frieden und Harmonie. Gelegentlich blickte er verstohlen über die Schulter zur Burg, aber nicht ein Wasserspeier war zu entdecken. Es war möglich, räumte er ein, dass er mit vierzehn voller Phantasien gewesen war. Es war möglich, dass Jahre der Flucht seine Empfindungen gefärbt hatten, bis alles nur noch düster und öde schien, selbst eine Vergangenheit, die einst glücklich gewesen war. Sein Leben hatte sich an jenem schicksalhaften Tag so brutal verändert, dass es sehr wohl auch seine Erinnerungen entstellt haben könnte.
Er konnte sich damit abfinden, dass er vergessen hatte, wie Tuluth wirklich gewesen war. Er konnte sich damit abfinden, dass die Burg nie wirklich bedrohlich gewesen war. Aber was sollte er von seinem Vater halten? Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie er über der Leiche seiner Mutter kauerte. Hatte er, in seinem Entsetzen und seiner Trauer, auch dieses Ereignis falsch beurteilt? Nachdem sich diese Möglichkeit aufgetan hatte, betrachtete er sie aus allen Blickwinkeln, und seine Verwirrung wuchs.
Er hatte seinen Vater früh am Morgen in den südlichen Gärten angetroffen, zu der Zeit, als Jolyn gewöhnlich über das Gelände schlenderte und den Tag begrüßte. Er hatte sich auf dem Weg zu Arron befunden, um mit ihm fischen zu gehen. Die Szene hatte sich schmerzhaft in sein Hirn gebrannt: Jolyn geschlagen und entstellt, ihr Gesicht voller Quetschungen, Ronin über ihr kauernd, knurrend, überall Blut, und dieses verfluchte, belastende Messer in seiner Hand.
»Schön, nicht wahr?«, unterbrach Balder seinen inneren Disput.
»Ja«, antwortete Grimm, leicht überrascht, dass Balder sich zu ihm gesellte. »Ich habe es so nicht in Erinnerung, Balder.«
Balder legte ihm ermutigend eine Hand auf die Schulter.
»Das liegt daran, dass es nicht immer so war. Tuluth ist über die Jahre gewaltig gewachsen, dank der Bemühungen deines Vaters.«
»Wo wir gerade davon sprechen, ich kann mich auch an dich nicht erinnern«, sagte Grimm nachdenklich. »Habe ich dich als kleiner Junge gekannt?«
»Nein. Ich habe die meiste Zeit meines Lebens auf Reisen verbracht. Ich besuchte Maldebann zweimal, als du klein warst, aber nur kurz. Vor sechs Monaten kenterte das Schiff, auf dem ich mich befand, in einem Sturm und ich wurde an die Küste des guten alten Schottland gespült. Ich erkannte das als Zeichen, dass es an der Zeit war nachzusehen, was aus meinem Clan geworden war. Ich bin der ältere
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