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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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Halskette aus Strass, einen Hammer und einige Notenhefte. Ein Notenheft war verschnürt, darauf war in Rot geschrieben: STRENG PRIVAT! ANSEHEN VERBOTEN! PRIVAT!
    Den ganzen Winter über schrieb sie ihre Kompositionen in dieses Heft. Sie machte abends keine Schularbeiten mehr, um Zeit für die Musik zu haben. Meist waren es nur kleine Melodien – Lieder ohne Worte und sogar ohne Basstöne. Ganz kurze Melodien, oft nur eine halbe Seite lang, die aber immer einen Titel hatten und mit ihren Initialen gezeichnet waren. Nichts in diesem Heft war ein richtiges Stück oder eine Komposition. Es waren einfach Lieder, die ihr durch den Kopf gingen und die sie behalten wollte. Die Titel hingen mit den Sachen zusammen, an die sie die Lieder erinnerten: ›Afrika‹ oder ›Große Schlägerei‹ oder ›Der Schneesturm‹.
    Sie konnte die Musik nicht genau so aufschreiben, wie sie in ihrem Kopf klang. Sie musste sie auf wenige Noten reduzieren, weil ihr sonst alles durcheinandergeriet und sie überhaupt nicht weiterkam. So vieles, was für das Aufschreiben von Musik notwendig war, wusste sie nicht. Aber wenn sie es schaffte, diese einfachen Melodien schnell aufzuschreiben, konnte sie danach vielleicht auch die ganze Musik in ihrem Kopf zu Papier bringen.
    Im Januar fing sie mit einem wunderbaren Stück an, das hieß: ›Was ich mir wünsche, ich weiß es nicht.‹ Ein schönes, herrliches Lied – ganz weich und getragen. Zuerst hatte sie auch einen poetischen Text dazu schreiben wollen, aber ihr fiel nichts ein, was zu dieser Musik passte. Außerdem war es schwer, für die dritte Zeile einen Reim auf ›nicht‹ zu finden. Dieses neue Lied begeisterte sie, es machte sie gleichzeitig traurig und glücklich. Es war kompliziert, so eine schöne Musik aufzuschreiben. Eigentlich waren alle Lieder schwer zu schreiben. Vor sich hinsummen konnte sie so was in zwei Minuten, aber bis es im Notenheft aufgeschrieben war, bis sie die Tonart, den Takt und jede einzelne Note heraushatte – das konnte eine Woche dauern.
    Sie musste es ganz konzentriert mehrmals vor sich hinsingen. Ihre Stimme war immer heiser – weil sie als Baby so viel gebrüllt hatte, meinte ihr Papa. Als sie so alt wie Ralph war, habe er Nacht für Nacht aufstehen und sie herumtragen müssen. Nur wenn er mit dem Schürhaken gegen den Kohleneimer schlug und dazu ›Dixie‹ sang, habe sie Ruhe gegeben.
    Sie lag bäuchlings auf dem kalten Fußboden und dachte nach. Wenn sie erst einmal zwanzig war, würde sie eine weltberühmte Komponistin sein. Sie würde vor einem großen Sinfonieorchester stehen und alle ihre Werke selber dirigieren. Sie sah sich vor einem überfüllten Saal auf dem Podium: Zum Dirigieren trug sie entweder einen richtigen dunklen Herrenanzug oder ein rotes, strassglitzerndes Kleid. Auf dem roten Samtvorhang stand in goldenen Lettern: M. K. Mister Singer war auch da, und nach dem Konzert gingen sie zusammen aus und aßen Brathühnchen. Er bewunderte sie und erklärte sie zu seiner besten Freundin, und George brachte ihr große Blumensträuße auf die Bühne. In New York würde das sein, oder auch in fernen Ländern. Lauter berühmte Leute würden sich nach ihr umsehen – Carol Lombard und Arturo Toscanini und Admiral Byrd.
    Dann konnte sie auch die Beethoven-Sinfonie so oft spielen, wie sie wollte. Es war eine seltsame Sache mit dieser Musik, die sie im letzten Herbst gehört hatte: Sie begleitete sie überallhin und fügte sich nach und nach zu einem Ganzen. Das musste daran liegen, dass sie die ganze Musik im Kopf hatte. Anders konnte es gar nicht sein. Sie hatte sie ja Ton für Ton gehört und irgendwo tief in ihr drin genauso aufbewahrt, wie sie damals gespielt worden war. Aber das Ganze wieder hervorzuholen – das lag nicht bei ihr. Sie konnte nur warten und dafür bereit sein, wenn plötzlich wieder ein neues Stück der Sinfonie in ihr auftauchte. Sie musste warten, sie musste sie wachsen lassen, wie die Blätter einer Eiche, die sich im Frühling langsam entrollen.
    Neben der Musik war auch Mister Singer Teil ihrer inneren Welt. Wenn sie nachmittags in der Turnhalle Klavier gespielt hatte, ging sie die Hauptstraße hinunter zu dem Laden, in dem er arbeitete. Durch das Schaufenster war Mister Singer nicht zu sehen. Er arbeitete hinter einem Vorhang. Aber den Laden, in dem er täglich aus und ein ging, konnte sie beobachten, auch die Leute, mit denen er zu tun hatte.
    Abends wartete sie auf der Veranda, bis er heimkam.
    Manchmal ging sie mit ihm

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