Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
nach oben. Sie setzte sich aufs Bett und sah zu, wie er den Hut abnahm, den obersten Knopf seines Hemdes öffnete und sich das Haar kämmte. Sie wusste nicht, warum – aber es war so, als hätten sie ein gemeinsames Geheimnis. Oder als würden sie einander bald Dinge sagen, die niemand zuvor ausgesprochen hatte.
Er war der einzige Mensch in ihrer inneren Welt. Ganz früher hatten auch andere dort gelebt. Sie dachte an die Zeit zurück, bevor er zu ihnen gekommen war. Da hatte es in der sechsten Klasse ein Mädchen gegeben – Celeste. Die hatte glattes blondes Haar, eine Stupsnase, Sommersprossen und X-Beine. Jeden Tag hatte sie eine Orange für die kleine Pause und eine blaue Blechbüchse mit Frühstück für die große Pause dabei. Die anderen Kinder verschlangen ihr ganzes Frühstück in der kleinen Pause und waren nachher hungrig. Celeste tat das nicht. Sie löste die Rinde von ihrem Pausenbrot und aß nur den weichen inneren Teil. Immer hatte sie ein hartgekochtes Ei mit, das hielt sie in der Hand, und das Gelbe drückte sie mit dem Daumen ein, so dass man ihren Fingerabdruck darauf sah.
Celeste redete nie mit ihr, und sie redete nie mit Celeste. Dabei wünschte sie sich nichts sehnlicher. Nachts lag sie wach und dachte an Celeste. Sie malte sich aus, sie wäre ihre beste Freundin und käme zu ihr zum Abendessen und zum Übernachten. Aber dazu kam es nie. Ihr Gefühl für Celeste ließ es nicht zu, einfach hinzugehen und sich mit ihr anzufreunden, wie sie es bei jeder anderen getan hätte. Nach einem Jahr zog Celeste in einen anderen Stadtteil und ging in eine andere Schule.
Dann hatte es einen Jungen namens Buck gegeben, einen großen Jungen mit verpickeltem Gesicht. Wenn morgens um halb neun die Schultür geöffnet wurde und sie in der Reihe der wartenden Kinder neben ihm stand, konnte sie seine üble Ausdünstung riechen – seine Hosen waren wohl schon lang nicht mehr gewaschen worden. Einmal machte Buck dem Schuldirektor eine lange Nase und wurde geschasst. Beim Lachen pflegte er die Oberlippe zu schürzen und sich richtig zu schütteln. Er beschäftigte ihre Gedanken so wie vorher Celeste. Dann war da noch die Dame gewesen, die Lotteriescheine für die Truthahn-Verlosung verkaufte. Dann Miss Anglin, die Lehrerin in der siebten Klasse. Und Carol Lombard im Film. Die alle hatte es einmal gegeben.
Mit Mister Singer war es anders. Dieses Gefühl für ihn hatte sich ganz langsam entwickelt. So weit sie auch zurückdachte – sie konnte nicht sagen, wie das eigentlich passiert war. Die anderen waren gewöhnliche Menschen gewesen, aber das war Mister Singer nicht. Als er zum ersten Mal bei ihnen klingelte und nach einem Zimmer fragte, hatte sie ihn lange angestarrt. Sie hatte ihm aufgemacht und die Karte gelesen, die er ihr reichte. Dann rief sie ihre Mama und ging in die Küche, um Portia und Bubber von ihm zu erzählen. Sie folgte ihm und Mama die Treppe hinauf und sah zu, wie er die Matratze befühlte und die Jalousien hochzog, um zu kontrollieren, ob sie funktionierten. Als er einzog, saß sie vorn auf der Verandabrüstung und sah ihn mit seinem Koffer und mit dem Schachbrett aus dem Taxi steigen. Später hörte sie ihn in seinem Zimmer rumoren, und sie versuchte ihn sich vorzustellen. Das andere kam ganz allmählich. Nun hatte sie das Gefühl, dass sie ein gemeinsames Geheimnis hatten. So viel wie mit ihm hatte sie noch nie mit einem Menschen geredet. Und wenn er hätte sprechen können – wie viel würde er ihr zu erzählen haben! Als wäre er ein großer Lehrer, der nur deshalb nicht lehren konnte, weil er stumm war. Abends im Bett malte sie sich aus, sie wäre verwaist und lebte mit Mister Singer zusammen – sie lebten beide ganz allein in einem Haus in einem fernen Land, wo es im Winter schneite. Vielleicht in einem Schweizer Städtchen zwischen Bergen und hohen Gletschern. Wo auf den steilen, spitzgiebligen Hausdächern lauter Steine lagen. Oder in Frankreich, wo die Leute das Brot ohne Verpackung nach Hause trugen. Oder am winterlich grauen Meer im fernen Norwegen.
Morgens galt ihr erster Gedanke ihm. Gemeinsam mit der Musik. Beim Anziehen überlegte sie, wo sie ihn heute wohl sehen werde. Sie nahm von Ettas Parfüm oder tupfte sich etwas Vanille auf, um gut zu riechen, falls sie ihm in der Diele begegnete. Sie ging möglichst spät zur Schule, damit sie ihn auf seinem Weg zur Arbeit noch die Treppe herunterkommen sähe. Und wenn er nachmittags oder abends daheim war, ging sie nicht aus dem
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