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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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sein.
    »Ich muss gehn«, sagte Harry. »Ich muss vor sechs bei der Arbeit sein.«
    »Gefällt’s dir im Café? Kriegst du was Gutes umsonst zu essen?«
    »Klar. Und was da für Leute hinkommen! Mir gefällt’s da besser, als wo ich sonst gearbeitet hab. Springt auch mehr raus dabei.«
    »Ich hasse Mister Brannon«, sagte Mick. Er hatte zwar nie etwas Gemeines zu ihr gesagt, aber er war immer so komisch und grob. Er musste die ganze Zeit gewusst haben, dass sie damals mit George das Päckchen Kaugummi geklaut hatte. Und außerdem: Wie kam er darauf, sie zu fragen, ob sie mit ihren Sachen vorankäme – damals bei Mister Singer? Vielleicht meinte er, sie würden daraus ein Geschäft machen? Aber das stimmte ja gar nicht. Ganz sicher nicht. Bloß einmal im Warenhaus ein kleiner Tuschkasten. Und ein Bleistiftspitzer für fünf Cent. »Ich kann Mister Brannon nicht ausstehen.«
    »Der ist in Ordnung«, sagte Harry. »Manchmal kommt er einem ziemlich seltsam vor, aber der ist gar nicht so muffelig, wie er tut. Wenn man ihn besser kennt.«
    »Ich hab schon oft gedacht, Jungs haben’s doch viel leichter als Mädchen«, sagte Mick. »Ich meine: Ein Junge findet meist ’ne Halbtagsstelle und hat noch Zeit für Schule und andere Sachen. Für Mädchen gibt’s so was nicht. Wenn man als Mädchen arbeiten will, muss man das ganztags machen und von der Schule abgehn. Ich würd wirklich gern ein paar Dollar in der Woche verdienen wie du, aber so was gibt’s einfach nicht.«
    Harry saß auf den Stufen und knüpfte seine Schnürsenkel auf. Er zerrte so sehr, dass ein Senkel riss. »Da kommt einer ins Café, Mr.   Blount. Mr.   Jake Blount. Den hör ich gern reden. Wenn der so beim Biertrinken erzählt, da kann man ’ne Menge lernen. Von dem hab ich ’n paar ganz neue Ideen.«
    »Den kenn ich gut. Der kommt sonntags immer her.«
    Harry schnürte seinen Schuh auf und zog die Enden des gerissenen Senkels zurecht, bis sie gleich lang waren und er wieder eine Schleife binden konnte. »Hör mal«, sagte er und rieb nervös seine Brille am Lumberjack, »ist nicht nötig, dass du ihm das weitersagst, was ich eben gesagt hab. Ich mein, der weiß wahrscheinlich gar nicht, wer ich bin. Mit mir redet er nicht. Bloß mit Mister Singer. Vielleicht findet er’s komisch, wenn du… na, du verstehst schon.«
    » O. K. « Sie merkte, dass er für Mister Blount schwärmte. Sie wusste, wie er sich fühlte. »Ich sag kein Wort.«
    Es wurde dunkel. Der Mond stand milchig-weiß am blauen Himmel, die Luft war kalt. Aus der Küche hörte sie Portia, Ralph und George. Der Schein des Herdfeuers tauchte das Küchenfenster in ein warmes, rötliches Gelb. Es roch nach Rauch und Abendessen.
    »Weißt du, ich hab das noch nie einem erzählt«, sagte er. »Ich mach’s mir selber nicht gern klar.«
    »Was denn?«
    »Weißt du noch, wie du zum ersten Mal Zeitung gelesen hast und angefangen hast, über das, was da drinsteht, nachzudenken?«
    »Klar.«
    »Früher war ich Faschist. Wenigstens glaubte ich früher, ich wär einer. Das kam so: Du kennst ja all die Bilder von den europäischen Kindern, die so alt sind wie wir. Wie sie singen und im Gleichschritt marschieren. Früher fand ich das wunderbar. Eine große Blutsbrüderschaft mit einem Führer. Alle mit den gleichen Idealen und im gleichen Schritt und Tritt. Was aus der jüdischen Minderheit wurde – darum hab ich mich nicht gekümmert, darüber wollte ich nicht nachdenken. Ich wollte damals auch nicht darüber nachdenken, dass ich selber ein Jude bin. Ich wusste eben zu wenig. Ich sah bloß die Bilder und las die Unterschriften und hab nicht verstanden, was da los war. Ich wusste ja nicht, was für eine schreckliche Sache das ist. Ich hab mich für ’nen Faschisten gehalten. Später ist mir natürlich ein Licht aufgegangen.«
    Seine Stimme klang bitter und brüchig.
    »Na ja, du konntest ja damals nicht wissen…«
    »Es war ein fürchterliches Verbrechen. Es war unmoralisch.«
    So war er nun. Entweder war alles sehr richtig oder ganz und gar falsch – ein Mittelding gab es nicht. Es war unrecht, wenn jemand vor seinem zwanzigsten Lebensjahr einen Schluck Bier oder Wein trank oder eine Zigarette rauchte. Es war eine entsetzliche Sünde, bei einer Klassenarbeit zu mogeln, aber wenn man zu Hause bei den Hausaufgaben irgendwo abschrieb – das war keine Sünde. Mädchen, die sich die Lippen schminkten oder im Sommer rückenfreie Kleider trugen, waren unmoralisch. Man beging eine schreckliche Sünde,

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