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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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wenn man etwas mit einem deutschen oder japanischen Warenzeichen kaufte, selbst wenn es nur fünf Cent kostete.
    Sie stellte sich den Harry von damals vor, als sie noch klein waren. Einmal hatte er angefangen zu schielen, und das war ein Jahr lang so geblieben. Damals saß er oft, die Hände zwischen den Knien, auf den Stufen vor seinem Haus und musterte seine Umgebung. Ganz ruhig saß er da und schielte. In der Grundschule übersprang er zwei Klassen und kam schon mit elf in die Highschool. Aber als sie in der Klasse Ivanhoe lasen und an die Stelle mit dem Juden kamen, da drehten sich alle Kinder nach ihm um. Er kam weinend nach Hause. Da nahm seine Mutter ihn aus der Schule. Ein ganzes Jahr ging er nicht zur Schule. Inzwischen wurde er immer größer und sehr dick. Wenn sie über den Zaun kletterte, sah sie ihn jedes Mal in der Küche, wo er sich etwas zu essen machte. Sie spielten zusammen auf der Straße, und manchmal rangen sie miteinander. Sie hatte sich gern mit Jungs geprügelt, als sie noch klein war – nicht richtig, nur zum Spaß. Bei ihr war es halb Jiu-Jitsu und halb Boxen. Manchmal kriegte er sie unter, manchmal sie ihn. Harry war nie grob zu irgendwem. Die Kleinen gingen mit ihren kaputten Spielsachen zu ihm, und er nahm sich immer die Zeit, sie wieder heilzumachen. Er konnte alles wieder heilmachen. Die Nachbarsfrauen holten ihn, wenn an der elektrischen Leitung oder an einer Nähmaschine irgendwas nicht funktionierte, und er brachte es in Ordnung. Mit dreizehn wurde er wieder in die Highschool geschickt. Er war ein fleißiger Schüler, trug Zeitungen aus, nahm eine Samstagsstelle an und las viel. Eine Zeitlang sah sie ihn kaum – bis zu ihrem Fest. Er hatte sich sehr verändert.
    »Das ist nämlich so«, sagte Harry. »Früher hatte ich immer ’nen Mordsehrgeiz für mich selber. Ich wollte was Großes werden – Ingenieur oder Arzt oder Rechtsanwalt. Jetzt hab ich das nicht mehr. Ich muss immer bloß daran denken, was jetzt in der Welt geschieht. Der Faschismus in Europa und all die anderen schrecklichen Sachen – und die Demokratie auf der anderen Seite. Ich meine: Ich kann gar nicht dran denken und dafür arbeiten, was ich mal im Leben werden will, weil ich viel zu viel an das andre denke. Jede Nacht träum ich davon, dass ich Hitler töten werde. Dann wach ich im Dunkeln auf – und bin furchtbar durstig und fürchte mich – ich weiß nicht, wovor.«
    Sie betrachtete Harrys Gesicht und wurde sehr ernst und tieftraurig. Das Haar hing ihm in die Stirn. Seine Oberlippe war schmal und gespannt, aber seine dicke Unterlippe zitterte. Harry wirkte jünger als fünfzehn. Bei Einbruch der Dunkelheit kam ein kalter Wind auf. Er sang in den Wipfeln der Eichen ringsum und schlug die Fensterläden gegen die Hauswände. Weiter unten auf der Straße rief Mrs.   Wells nach ihrem Sucker. Der dunkle Spätnachmittag machte ihr Herz ganz schwer vor Trauer. Ich möcht ein Klavier – ich möcht Musikstunden nehmen, sagte sie zu sich. Sie sah Harry an, der seine hageren Finger verschränkte – einmal so und einmal so. Er hatte einen warmen Jungsgeruch an sich.
    Was trieb sie dazu? Die Erinnerungen an die Zeit, als sie beide noch klein waren? Oder benahm sie sich so komisch, weil sie traurig war? Jedenfalls versetzte sie ihm ganz unvermittelt einen Stoß, so dass Harry beinahe die Stufen hinunterpurzelte. »Deine Großmutter kann mich mal…«, schrie sie und rannte weg. Das sagten die Kinder hier in der Gegend immer, wenn sie sich prügeln wollten. Harry stand ganz verdattert da. Er rückte seine Brille zurecht, schaute sie kurz an und rannte in das Seitengässchen.
    Die kalte Luft machte sie stark wie Samson. Ihr Lachen hallte kurz nach. Sie lief ihm hinterher. Als sie Harry mit der Schulter anrempelte, bekam er sie zu packen. Lachend begannen sie miteinander zu ringen. Sie war größer als er, aber er hatte starke Hände. Er gab sich keine allzu große Mühe: Sie kriegte ihn unter. Da hörte er plötzlich auf zu kämpfen, und auch sie rührte sich nicht mehr. Sein Atem ging warm an ihrem Hals, er lag ganz still da. Sie saß auf seiner Brust und fühlte seine Rippen unter ihren Knien, er atmete schwer. Sie standen gleichzeitig auf. Sie lachten nicht mehr; es war ganz still. Während sie über den dunklen Hinterhof gingen, war ihr komisch zumute. Eigentlich gab es keinen Grund für dieses komische Gefühl, es war einfach plötzlich da. Sie gab ihm einen kleinen Schubser, und er schubste zurück. Dann lachte sie,

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