Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Füße sind erfroren. Drei Nächte und drei Tage haben sie so gelegen, und keiner ist gekommen.«
Doktor Copeland presste die Hände an den Kopf, aber das Zittern wollte nicht aufhören. »Ich kann nicht hören, was du sagst.«
»Dann endlich sind sie gekommen und haben sie geholt. Sie haben Willie und die andern schnell ins Lazarett geschafft, und ihre Beine waren ganz geschwollen und erfroren. Wundbrand. Buster Johnson hat einen Fuß verloren, der andre Junge ist wieder ganz gesund geworden. Aber unser Willie – der ist jetzt ein Krüppel fürs Leben. Beide Füße abgesägt.«
Portia hatte alles gesagt. Sie fiel vornüber und schlug mit dem Kopf auf den Tisch. Sie weinte nicht, sie stöhnte nicht, sie schlug nur immer wieder mit dem Kopf auf die abgescheuerte Tischplatte. Die Schüssel und Löffel klirrten; er räumte sie fort und legte sie in das Spülbecken. In seinem Kopf war ein Wirrwarr von Wörtern, aber er gab sich keine Mühe, sie zusammenzufügen. Er spülte die Schüssel und Löffel mit kochendem Wasser ab und wusch das Spültuch aus. Er hob irgendetwas vom Boden auf und legte es irgendwohin.
»Verkrüppelt?«, fragte er. »William?«
Portia schlug mit dem Kopf auf den Tisch, wie eine Trommel, die langsam und rhythmisch geschlagen wird, und sein Herz nahm diesen Rhythmus auf. Ganz allmählich gewannen die Wörter Leben und ergaben einen Sinn, den er verstand.
»Wann werden sie ihn nach Hause schicken?«
Portia ließ den Kopf auf den Arm sinken. »Buster weiß nicht. Die drei sind dann bald getrennt worden. Buster kam in ein andres Lager. Willie hat nur noch ein paar Monate, vielleicht kommt er jetzt bald nach Hause, sagt Buster.«
Sie tranken Kaffee, saßen lange da und sahen einander in die Augen. Die Tasse klirrte gegen seine Zähne. Sie goss ihren Kaffee in die Untertasse und verschüttete etwas auf ihren Schoß.
»William…«, sagte Doktor Copeland. Und dabei biss er sich heftig auf die Zunge, er konnte seinen Kiefer kaum bewegen. Sie saßen lange beieinander. Portia hielt seine Hand. Das fahle Morgenlicht stand grau in den Fenstern. Draußen regnete es immer noch.
»Wenn ich heut noch zur Arbeit will, sollt ich jetzt lieber gehn«, sagte Portia.
Er folgte ihr durch die Diele und blieb an der Garderobe stehen, um Mantel und Schal anzulegen. Durch die offene Tür schlug ihnen nasskalte Luft entgegen. Highboy saß draußen auf dem Bordstein, den Kopf zum Schutz gegen den Regen mit einer durchweichten Zeitung bedeckt. Den Gehsteig entlang lief ein Zaun, auf den Portia sich beim Gehen stützte. Doktor Copeland ging ein paar Schritte hinter ihr; auch seine Hände tasteten, eine Stütze suchend, nach den Zaunlatten. Highboy folgte ihnen.
Er wartete auf die schwarze, fürchterliche Wut wie auf ein wildes Tier, das ihn aus dem Dunkeln anspränge. Die Wut kam nicht. Sein Inneres war schwer wie Blei. Langsam ging er weiter, sich an Zäunen und nasskalten Mauern entlangtastend. Immer weiter, immer tiefer hinab, bis es keinen Abgrund mehr gäbe. Dann stand er auf dem festen Boden der Verzweiflung – und war beruhigt.
Hier, wusste er, gab es eine Art starker, heiliger Freude. Das Lachen der Gehetzten und das Lied, das der geprügelte schwarze Sklave seiner gepeinigten Seele singt. Auch in ihm sang es jetzt – es war keine wirkliche Musik, nur ein Gefühl von Singen. Dieser dumpfe Friede machte seine Glieder schwer, so dass allein der Gedanke an das eine große, wahre Ziel ihn vorwärtstrieb. Warum ging er weiter? Warum ruhte er nicht aus und gab sich eine Weile damit zufrieden, hier auf dem Grund der größten Demütigung?
Aber er ging weiter.
»Onkelchen«, sagte Mick, »glaubst du, dass dir von heißem Kaffee besser wird?«
Doktor Copeland sah ihr ins Gesicht, gab aber durch nichts zu erkennen, dass er sie gehört hatte. Sie waren durch die ganze Stadt gegangen, bis sie schließlich in das Gässchen hinter dem Kellyschen Hause gelangten. Portia ging zuerst hinein, er folgte ihr. Highboy setzte sich draußen auf die Stufen. Mick und ihre beiden kleinen Brüder waren bereits in der Küche. Portia erzählte von William. Doktor Copeland hörte nicht auf die Worte, aber am Klang ihrer Stimme merkte er, wo sie in ihrer Erzählung war: Aufgesang – Mitte – Abgesang. Wenn sie zu Ende war, fing sie wieder von vorne an. Andere Leute kamen herein und hörten ihr zu.
Doktor Copeland saß auf einem Schemel in der Ecke. Sein Mantel und sein Schal hingen dampfend über einer Stuhllehne am Herd. Er hielt
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