Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
hatte, widmete er sich von zwölf bis zwei Uhr seinen Sprechstundenpatienten. Dann blieb er mit geballten Fäusten an seinem Schreibtisch sitzen. Aber so sehr er sich bemühte, über diese Angelegenheit nachzudenken – es führte doch zu nichts.
Er wollte nie wieder einen Menschen sehen. Er konnte aber auch nicht allein im leeren Zimmer sitzen. Er zog seinen Mantel an und ging wieder hinaus auf die nasskalte Straße. In der Tasche hatte er einige Rezepte, die in der Apotheke abgegeben werden mussten. Aber er scheute sich vor einem Gespräch mit Marshall Nicolls. Er ging in die Apotheke und legte die Rezepte auf den Ladentisch. Der Apotheker ließ das Pulver, das er gerade abwog, liegen und streckte ihm beide Hände entgegen. Einen Moment lang bewegte er seine dicken Lippen, ohne dass ein Ton herauskam; dann fasste er sich.
»Doktor«, sagte er feierlich. »Sie sollen wissen, dass uns allen – mir, den Kollegen und den Mitgliedern meiner Loge und meiner Kirche – Ihr Kummer sehr zu Herzen geht. Nehmen Sie den Ausdruck unserer wärmsten Anteilnahme entgegen.«
Doktor Copeland wandte sich brüsk ab und ging wortlos hinaus. Das reichte nicht. Er brauchte mehr: das eine große, wahre Ziel, den Willen zur Gerechtigkeit. Die Arme an den Körper gepresst, ging er steifbeinig zur Hauptstraße. Er grübelte, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. In der ganzen Stadt kannte er keinen einflussreichen Weißen, der nicht nur mutig, sondern auch rechtschaffen war. Er ging alle ihm bekannten Rechtsanwälte, Richter und Beamten durch – aber jeder Name weckte Bitterkeit in seinem Herzen. Schließlich entschied er sich für den Gerichtsvorsitzenden. Ohne zu zögern ging er ins Gerichtsgebäude. Sein Entschluss stand fest: Noch heute musste er den Richter sprechen.
Das große Foyer war leer bis auf einige wenige Leute, die vor den Türen der Amtszimmer herumlungerten. Da er das Zimmer des Richters nicht kannte, wanderte er unsicher durch das ganze Gebäude und suchte auf den Türschildern den Namen des Richters. Schließlich gelangte er in einen schmalen Korridor, in dem drei Weiße, in ein Gespräch vertieft, ihm den Weg versperrten. Er wollte sich an der Wand an ihnen vorbeidrücken, aber der eine drehte sich um und hielt ihn an.
»Was wollen Sie?«
»Würden Sie mir bitte sagen, wo sich das Büro des Herrn Richters befindet?«
Der Weiße wies mit dem Daumen auf das andere Ende des Ganges. Doktor Copeland erkannte ihn: ein stellvertretender Sheriff. Sie waren sich schon Dutzende von Malen begegnet, aber der Beamte schien sich nicht an ihn zu erinnern. Für die Neger sahen alle Weißen gleich aus, aber sie bemühten sich, sie zu unterscheiden. Und für die Weißen sahen alle Neger gleich aus, nur strengten sie sich gewöhnlich nicht an, sich das Gesicht eines Negers zu merken. Der Weiße sagte also: »Was wollen Sie denn, Hochwürden?«
Sein Spott ärgerte Doktor Copeland. »Ich bin kein Geistlicher«, antwortete er. »Ich bin Arzt und heiße Benedict Mady Copeland. Ich möchte den Herrn Richter umgehend in einer dringenden Angelegenheit sprechen.«
Der Sheriff geriet – wie viele Weiße bei einer deutlichen und präzisen Aussage – in Wut. »So – möchten Sie das?«, höhnte er und zwinkerte seinen Freunden zu. »Dann möchte ich Ihnen sagen: Ich bin Mister Wilson, stellvertretender Sheriff, und der Herr Richter hat keine Zeit. Kommen Sie ein andermal wieder.«
»Ich muss den Herrn Richter aber sprechen«, sagte Doktor Copeland. »Ich werde warten.«
Er setzte sich auf eine Bank am Ende des Korridors. Die drei Weißen nahmen ihr Gespräch wieder auf, aber er wusste, dass der Sheriff ihn nicht aus den Augen ließ. Er war fest entschlossen, nicht fortzugehen. Über eine halbe Stunde verging. Mehrere Weiße gingen unbehelligt durch den Korridor und kamen wieder zurück. Er spürte, wie der Beamte ihn beobachtete, und blieb reglos, die Hände zwischen die Knie geklemmt, sitzen. Seine Vernunft riet ihm, zu gehen und später, wenn der Sheriff fort war, wiederzukommen. Sein ganzes Leben lang war er im Umgang mit solchen Leuten vorsichtig gewesen. Jetzt aber verbot ihm eine innere Stimme jede Nachgiebigkeit.
»Kommen Sie mal her, Sie!«, rief der Beamte schließlich.
Sein Kopf zitterte, und beim Aufstehen merkte er, wie unsicher er auf den Beinen war. »Ja?«
»Was sagten Sie? Weshalb wollen Sie den Richter sprechen?«
»Davon habe ich nichts gesagt«, erklärte Doktor Copeland. »Ich sagte lediglich: Es handelt sich um
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