Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Herzchen«, sagte Portia. »Ist ja gleich zehn.«
»Zehn! Menschenskind! So lang hab ich noch nie geschlafen.«
»Was schleppst du denn in der großen Hutschachtel rum?«
Mick holte sich ein paar Brötchen aus dem Ofen. »Wer nichts fragt, wird auch nicht angelogen, und wer rumspioniert, mit dem nimmt’s ein böses Ende.«
»Wenn noch Milch übrig ist, könnt ich mir Brot einbrocken«, sagte ihr Papa. »Ein Krankensüppchen. Vielleicht tut das meinem Magen gut.«
Mick schnitt die Brötchen auf, belegte sie mit Hühnchenscheiben und setzte sich zum Frühstücken auf die Hintertreppe. Es war ein warmer, sonniger Vormittag. George spielte mit Spareribs und Sucker auf dem Hinterhof. Sucker war im Badeanzug, und die beiden anderen hatten bloß ihre kurzen Hosen an. Sie bespritzten einander mit dem Wasserschlauch. Der Wasserstrahl glitzerte in der Sonne und zerstob im Wind zu einem Sprühregen, der in allen Regenbogenfarben schillerte. An einer Leine flatterte Wäsche – weiße Laken, Ralphs blaues Kleidchen, eine rote Bluse und Nachthemden; die Kleider waren noch nass von der Wäsche und blähten sich im Wind. Es war fast wie an einem Sommertag. Kleine gelbe Wespen schwirrten wie trunken um die Geißblatthecke im Seitengässchen.
»Sieh mal, ich halt’s über den Kopf!«, schrie George. »Sieh mal, wie das Wasser runterläuft!«
Sie platzte fast vor Energie, sie konnte nicht mehr stillsitzen. George hatte einen mit Erde gefüllten Mehlbeutel als Punching-Ball an einen Ast gehängt. Auf den schlug sie jetzt ein. Puck! Pock! Sie boxte im Takt der Melodie, die ihr seit dem Aufwachen durch den Kopf ging. In der Erde im Beutel steckte ein spitzer Stein, an dem sie sich die Knöchel stieß.
»Aua! Du hast mich ins Ohr gespritzt. Mein Trommelfell ist geplatzt. Ich kann gar nichts mehr hören.«
»Gib her, lass mich mal spritzen!«
Wassertropfen wehten ihr ins Gesicht, und einmal zielten die Kinder mit dem Schlauch auf ihre Beine. Sie sorgte sich um ihre Schachtel und trug sie durch das Gässchen zur Veranda. Harry saß drüben auf den Stufen und las die Zeitung. Sie öffnete die Schachtel und nahm ihr Notenheft heraus. Aber es fiel ihr schwer, sich auf das Lied zu konzentrieren, das sie aufschreiben wollte. Harry sah zu ihr herüber und hinderte sie am Nachdenken.
In letzter Zeit hatte sie mit Harry über mancherlei gesprochen. Fast täglich redeten sie auf dem Heimweg nach der Schule über Gott. Manchmal, wenn sie nachts aufwachte, graute es ihr vor dem, was sie gesagt hatten. Harry war Pantheist. Das war eine Religion, genauso wie baptistisch, katholisch oder jüdisch. Harry glaubte, wenn man tot und begraben war, dann würde man eine Pflanze werden oder Feuer, oder auch Erde, eine Wolke oder Wasser. Das konnte Jahrtausende so gehen, und zum Schluss war man ein Teil der ganzen großen Welt. Er sagte, er finde das schöner, als wenn man ein Engel würde. Na ja, es war jedenfalls besser als nichts.
Harry warf die Zeitung in die Diele und kam herüber. »Eine Hitze heute – wie im Sommer«, sagte er. »Dabei haben wir erst März.«
»Ja. Wenn wir doch schwimmen gehn könnten.«
»Könnten wir ja, aber wo?«
»Gibt nichts. Bloß das Schwimmbad im Coutry Club.«
»Ich würd gern was unternehmen – und raus, irgendwohin.«
»Ich auch«, sagte sie. »Wart mal! Ich weiß, wohin. Draußen auf dem Land, so fünfundzwanzig Kilometer von hier, im Wald. Da gibt’s einen tiefen, breiten Fluss. Im Sommer haben die Pfadfinderinnen da ihr Lager. Mrs. Wells ist voriges Jahr mit uns zum Schwimmen hingefahren, mit mir und George und Pete und Sucker.«
»Wenn du willst, besorg ich uns Räder, und dann können wir morgen da hin. Einen Sonntag im Monat hab ich frei.«
»Ja, wir fahren raus und nehmen uns was zu essen mit«, sagte Mick.
» O. K. Ich borg mir die Räder.«
Es war Zeit für ihn, zur Arbeit zu gehen. Sie sah ihm nach, wie er, mit den Armen schlenkernd, die Straße hinunterging. Ein paar Häuser weiter stand ein Lorbeerbaum, dessen Äste tief herabreichten. Harry nahm Anlauf, griff im Sprung nach einem Ast und machte einen Klimmzug. Ein Glücksgefühl überkam sie: Richtig gute Freunde waren sie. Außerdem sah er gut aus. Morgen würde sie das seidene Kleid anziehen und sich Hazels blaue Halskette ausleihen. Und zum Mittagessen würden sie Marmeladenbrötchen und Limonade mitnehmen. Vielleicht brachte Harry was Extrafeines mit, denn bei ihm zu Hause wurde koscher gegessen. Sie sah ihm nach, bis er um die
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