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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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sie am Ufer und sahen einander an. Es schien ihnen nichts Neues einfallen zu wollen. Plötzlich fragte sie: »Bist du schon mal nackt geschwommen?«
    Es war ganz still im Wald, und es dauerte eine ganze Weile, bis er antwortete. Er schien zu frieren. Seine Brustwarzen sahen hart und bläulich aus. Auch seine Lippen waren bäulich, und seine Zähne klapperten. »Ich… nein, ich glaub nicht.«
    Sie war so merkwürdig aufgeregt und sagte etwas, das sie gar nicht sagen wollte. »Ich mach’s, wenn du es auch machst. Was meinst du?«
    Harry strich sich die nassen dunklen Haarsträhnen zurück. » O. K. «
    Sie zogen ihre Badeanzüge aus. Harry drehte ihr den Rücken zu. Er hatte rote Ohren, und einmal stolperte er. Dann wandten sie sich einander wieder zu. Eine halbe Stunde mochten sie so gestanden haben oder auch nur eine Minute – sie wussten es nicht.
    Harry zupfte ein Blatt von einem Baum und zerrupfte es in kleine Stücke. »Wir sollten uns besser wieder anziehen.«
    Während des Essens sprachen sie kein Wort. Sie breiteten ihren Proviant auf der Erde aus, und Harry teilte alles in gleiche Hälften. Der heiße Sommernachmittag machte sie schläfrig. Kein Laut drang aus der Tiefe des Waldes – nur das Wasser plätscherte langsam dahin, und die Vögel sangen. Harry hielt ein gepelltes Ei in der Hand und zerquetschte das Gelbe mit dem Daumen. Woran erinnerte sie das? Sie hörte ihren eigenen Atem.
    Harry beugte sich über ihre Schultern und sah sie an. »Weißt du was, Mick? Ich finde dich hübsch. Früher hab ich das nicht so gemerkt. Ich hab nicht etwa gedacht, dass du hässlich bist – das mein ich nicht… bloß…«
    Sie warf einen Kiefernzapfen ins Wasser. »Wir sollten vielleicht lieber aufbrechen, wenn wir vor dem Dunkelwerden zu Hause sein wollen.«
    »Nein«, sagte er. »Wir wollen uns hinlegen. Bloß ein paar Minuten.«
    Er trug Tannennadeln, Blätter und graues Moos zusammen. Sie lutschte an ihrem Knie und beobachtete ihn. Mit geballten Fäusten, von Kopf bis Fuß angespannt, saß sie da.
    »So, jetzt schlafen wir, dann sind wir frisch für die Rückfahrt.«
    Sie legten sich auf das weiche Lager und blickten in die himmelhoch ragenden, dunkelgrünen Baumkronen. Ein Vogel sang ganz klar ein trauriges Liedchen, wie sie es noch nie gehört hatte: erst ein hoher Ton wie von einer Oboe – dann fünf Töne tiefer der gleiche Ruf. Ein trauriges Lied, wie eine Frage ohne Worte.
    »Diesen Vogel habe ich zu gern«, sagte Harry. »Ein Grünfink, glaub ich.«
    »Wenn wir doch am Meer wären. Am Strand liegen, und weit draußen auf dem Wasser fahren Schiffe. Du warst doch im Sommer mal am Strand – wie ist das eigentlich?«
    Seine Stimme klang rauh und dumpf. »Na ja – da sind die Wellen – manchmal blau, manchmal grün, und wenn die Sonne scheint, sehn sie ganz gläsern aus. Und im Sand, da kann man kleine Muscheln finden. Weißt du, solche, wie wir in der Zigarrenkiste mitgebracht hatten. Und über dem Wasser fliegen weiße Möwen. Wir waren am Golf von Mexiko – da weht immer eine kühle Brise von der Bucht, da ist es nie so drückend heiß wie hier. Immer…«
    »Schnee«, sagte Mick »Das möcht ich mal erleben. Kalte, weiße Schneehaufen, wie ich sie von Bildern her kenne. Schneestürme. Weißer, kalter Schnee, der im Winter sachte herunterrieselt und nie, nie aufhört. Wie in Alaska.«
    Gleichzeitig wandten sie sich einander zu. Sie lagen dicht aneinandergepresst. Sie fühlte, wie er zitterte, und sie ballte die Fäuste so fest, dass sie knackten. »O Gott«, sagte er immer wieder, »o Gott.« Ihr war, als hätte man ihren Kopf vom Körper abgetrennt und weggeworfen. Sie starrte in die blendende Sonne hinauf, während in ihrem Kopf ein Zählwerk zu arbeiten schien. Und dann passierte es. So war es gewesen.
    Sie schoben langsam die Räder über die Straße. Harry ließ Kopf und Schultern hängen. Im Spätnachmittagslicht fielen ihre Schatten lang und dunkel auf den staubigen Weg.
    »Hör mal zu«, sagte er.
    »Ja.«
    »Wir müssen damit fertigwerden. Wir müssen. Verstehst du – irgendwie?«
    »Ich weiß nicht. Nein, ich glaub nicht.«
    »Hör zu. Wir müssen was tun. Komm, wir wollen uns hinsetzen.«
    Sie legten die Räder hin und setzten sich, weit voneinander entfernt, an den Straßengraben. Die Nachmittagssonne brannte ihnen auf den Kopf. Ringsum waren lauter bröckelige, braune Ameisenhaufen.
    »Wir müssen damit fertigwerden«, sagte Harry.
    Er fing an zu weinen. Ganz still saß er da, während

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