Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
sich wie ein Wurm durch seinen Kopf. Müde verrichtete er an den langen Nachmittagen und Abenden seine Arbeit. Er konnte nicht schlafen, und das Lesen war eine Qual. Der feuchte, säuerliche Gestank in seinem Zimmer machte ihn rasend. Ruhelos wälzte er sich im Bett, und wenn er schließlich einschlief, war es schon hell.
Er wurde von einem Traum heimgesucht. Jedes Mal wachte er mit einem schrecklichen Gefühl auf, konnte sich aber seltsamerweise nie daran erinnern, was in diesem Traum geschehen war. Sobald er die Augen aufschlug, war nur dieses Gefühl da. Jedes Mal erwachte er mit der gleichen Angst – zweifellos hatte er also den gleichen Traum gehabt. Er hatte immer viel geträumt – die grotesken Alpträume des Trinker, Träume, die an den Rand des Irrsinns führen; aber die ersten Strahlen der Morgensonne verwischten die Erinnerung daran, nichts blieb von ihnen zurück.
Mit diesem leeren, heimtückischen Traum war es anders. Er wachte auf und erinnerte sich zwar an nichts. Doch ein Gefühl der Bedrohung ging ihm lange nach. Eines Morgens erwachte er mit der bekannten Furcht, zugleich aber mit einer schwachen Erinnerung an das Finstere, das hinter ihm lag: Er ging inmitten vieler Menschen und trug etwas im Arm. Das war aber das Einzige, an das er sich erinnern konnte. Hatte er gestohlen? Hatte er versucht, irgendetwas in Sicherheit zu bringen? Wurde er vielleicht von diesen Menschen verfolgt? Nein, das war es wohl nicht. Je länger er diesen schlichten Traum zu ergründen suchte, umso weniger verstand er ihn. Danach blieb der Traum eine Zeitlang aus.
Er lernte den Verfasser der Botschaft kennen, die er im vergangenen November an einer Mauer gelesen hatte. Dieser Alte hängte sich sofort an ihn wie ein böser Geist. Er hieß Simms und war einer dieser Straßenprediger. Die Winterkälte hatte ihn ins Haus verbannt, aber im Frühling trieb er sich den ganzen Tag über auf der Straße herum. Sein weiches, weißes Haar hing ihm zottig in den Nacken, und er schleppte eine mit Kreidestücken und Flugblättern gefüllte große, seidene Damenhandtasche mit sich. Dieser Simms mit den irre funkelnden Augen wollte ihn bekehren.
»Elender, ich wittere den sündigen Gestank des Bieres in deinem Atem. Und geraucht hast du! Wenn der Herr wollte, dass wir Zigaretten rauchen, dann hätte Er’s in Seinem Buch gesagt. Deine Stirn ist vom Satan gezeichnet. Ich seh es wohl. Geh in dich! Lass dir von mir den Weg zum Licht weisen!«
Jake blickte zum Himmel auf und schlug langsam das Kreuzzeichen. Dann hielt er seine ölverschmierte Hand hin. »Nur du sollst es erfahren«, flüsterte er. Simms starrte auf die Narbe in Jakes Handfläche. Jake beugte sich dicht zu ihm und flüsterte: »Ich trage auch das andre Mal. Du weißt, was ich meine. Ich bin damit geboren.«
Simms wich zurück. Mit einer weibischen Bewegung griff er nach einer Silberlocke an seiner Stirn und strich sie zurück, während er sich nervös die Mundwinkel leckte. Jake musste lachen.
»Lästerer!«, kreischte Simms. »Gott wird dich strafen. Dich und alle deinesgleichen. Gott vergisst die Spötter nicht. Ich steh unter Gottes Obhut. Wir alle stehn unter Seiner Obhut, vor allem aber ich. So wie Moses. Gott spricht zu mir in der Nacht. Gott wird dich strafen.«
Er traktierte den Alten in einer Eckkneipe mit Coca-Cola und Erdnussbutterkeksen. Wieder begann Simms auf ihn einzureden; und als Jake sich auf den Weg zum Rummelplatz machte, lief Simms hinter ihm her.
»Komm heute Abend um sieben an diese Ecke. Jesus hat eine besondere Botschaft für dich.«
Die ersten Apriltage waren warm und windig. Weiße Wolken segelten am blauen Himmel. Der Wind trug den frischen Geruch des Flusses und der Wiesen vom Stadtrand in die Stadt. Auf dem Rummelplatz herrschte täglich Hochbetrieb von vier Uhr nachmittags bis Mitternacht. Die Menge war schwer zu bändigen. Jake spürte, dass der Frühling die Streitlust der Leute weckte.
Als er eines Abends die Luftschaukel reparierte, wurde er plötzlich durch lautes Schimpfen aus seinen Gedanken gerissen.
Er drängte sich rasch durch die Menge. Am Billettschalter für das Karussell prügelten sich ein weißes Mädchen und eine Farbige. Er riss die beiden auseinander, aber sie wollten sich gleich wieder aufeinanderstürzen. Die Umstehenden mischten sich ein und wüteten, als wären sie wahnsinnig geworden. Das weiße Mädchen hatte einen Buckel. Sie hielt etwas fest in ihrer Hand.
»Ich hab’s gesehn«, kreischte die Farbige. »Ich
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