Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
die Tränen über sein blasses Gesicht rollten. Eigentlich verstand sie nicht, warum er weinte.
Eine Ameise stach sie in den Fußknöchel; sie nahm sie mit den Fingern auf und betrachtete sie genau.
»Die Sache ist die«, sagte er, »ich hab noch nie ein Mädchen auch nur geküsst.«
»Ich auch nicht. Ich hab noch keinen Jungen geküsst – nur in der Familie.«
»Ich hab mir nie was andres gewünscht, als dieses eine Mädchen zu küssen. Wenn ich in der Schule saß, hab ich mir’s ausgemalt, und nachts hab ich davon geträumt. Einmal hat sie sich mit mir verabredet, und ich hab genau gemerkt, dass sie geküsst werden wollte. Aber ich stand im Dunkeln vor ihr und hab sie bloß immer angesehn und konnte nicht. Ich habe an nichts anderes mehr gedacht, als sie zu küssen, und dann war es so weit, und ich konnte nicht.«
Sie bohrte mit dem Finger ein Loch in die Erde und begrub die tote Ameise darin.
»Ist alles meine Schuld. Unzucht ist eine schreckliche Sünde, wie man’s auch betrachtet. Außerdem bist du zwei Jahre jünger als ich und noch ein Kind.«
»Nein, bin ich nicht. Ich bin kein Kind mehr. Trotzdem – jetzt wünschte ich mir, ich wär eins.«
»Hör zu. Wenn du meinst, es wär richtig, können wir heiraten – heimlich oder so.«
Mick schüttelte den Kopf. »Nein, das mag ich nicht. Ich werd überhaupt nie einen Jungen heiraten.«
»Ich werd auch nie heiraten. Das weiß ich. Das sag ich nicht bloß so – das ist die Wahrheit.«
Sein Gesicht machte ihr Angst. Seine Nase zitterte, und er hatte seine Unterlippe so zerbissen, dass sie blutig war. Die feuchtglänzenden Augen blickten finster drein, und sein Gesicht war so blass, wie sie noch keines gesehen zu haben meinte. Sie wandte sich ab. Wenn er bloß mit Reden aufhören würde – dann wäre schon alles besser. Langsam wanderte ihr Blick von den rotweißen Lehmschichten im Graben über eine zerbrochene Whiskyflasche zu der Kiefer mit dem Schild, auf dem der Posten des Kreissheriffs ausgeschrieben war. Am liebsten wäre sie ruhig hier sitzen geblieben, ohne etwas zu denken und ohne ein Wort zu sagen.
»Ich bleib nicht in der Stadt. Ich bin ein guter Mechaniker, da find ich schon woanders Arbeit. Zu Hause – meine Mutter wird’s mir gleich an den Augen ansehen.«
»Sag mal: Wenn du mich ansiehst – seh ich irgendwie anders aus?«
Harry musterte lange ihr Gesicht und nickte. Dann sagte er: »Noch eins. In ein oder zwei Monaten schick ich dir meine Adresse. Dann schreibst du mir zurück, damit ich weiß, ob bei dir alles in Ordnung ist.«
»Wie meinst du das?«, fragte sie zögernd.
Er erklärte es ihr. »Du brauchst bloß › O. K. ‹ zu schreiben, dann weiß ich Bescheid.«
Sie machten sich, die Räder schiebend, auf den Heimweg. Ihre Schatten zogen sich immer mehr in die Länge. Harry ging gebeugt wie ein alter Bettler und wischte sich immer wieder mit dem Ärmel die Nase ab. Für eine kurze Weile war alles in goldene Glut getaucht, dann versank die Sonne hinter den Bäumen, und die Schatten auf der Straße vor ihnen waren verschwunden. Sie fühlte sich sehr alt und innerlich irgendwie schwer. Nun war sie erwachsen – ob sie wollte oder nicht.
Nach einem Fußmarsch von fünfundzwanzig Kilometern kamen sie endlich in dem dunklen Gässchen an. Gelbes Licht fiel aus dem Küchenfenster. Bei Harry war es dunkel – seine Mutter war noch nicht zu Hause. Sie arbeitete bei einem Schneider in einer Nebenstraße. Manchmal sogar sonntags. Durchs Schaufenster konnte man sie hinten im Laden sehen, über die Maschine gebeugt oder mit einer langen Nadel an schweren Kleidungsstücken nähend. Sie sah nie auf, wenn man sie beobachtete. Abends kochte sie dann für Harry und sich diese koscheren Speisen.
»Hör mal…«, sagte er.
Sie stand im Dunkeln und wartete, aber er sagte nichts weiter. Sie gaben sich die Hand, und Harry ging durch das dunkle Gässchen zwischen den Häusern davon. Auf dem Gehsteig wandte er den Kopf und blickte über die Schulter zurück. Im Laternenschein sah sein Gesicht bleich und hart aus. Dann war er fort.
»Pass auf – ein Rätsel«, sagte George.
»Ich hör ja zu.«
»Zwei Zwerge gehen hintereinander her. Der erste ist der Sohn des zweiten, aber der zweite ist nicht der Vater des ersten. Aber was dann?«
»Mal sehn. Sein Stiefvater.«
George grinste Portia an und zeigte seine eckigen, bläulichen Zähne.
»Dann sein Onkel.«
»Falsch, falsch! Seine Mutter. Das ist ja grad der Witz, dass man nicht draufkommt,
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