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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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seiner Brust. Die Hand des Toten hielt einen rot-gelben Stock mit einer Troddel, wie man ihn in der Wurstbude auf dem Rummelplatz kaufen konnte. Düster starrte Jake eine Zeitlang die Leiche an. Dann rief er die Polizei. Man fand keine Anhaltspunkte. Nach zwei Tagen verlangte die Familie vom Leichenschauhaus die Auslieferung der Leiche.
    Auf dem Rummelplatz gab es häufig Streit und Schlägereien. Freunde, die eben noch Arm in Arm gelacht und getrunken hatten, konnten sich gleich darauf wutschnaubend bekämpfen. Jake lag ständig auf der Lauer. Hinter der bunten Ausgelassenheit des Rummelplatzes, hinter Lichterglanz und sorglosem Gelächter witterte er etwas Finsteres, Bedrohliches.
    In diesen wirren Wochen folgte Simms ihm auf Schritt und Tritt. Der alte Mann brachte oft eine Seifenkiste und eine Bibel mit, stellte sich mitten im Gedränge auf die Kiste und fing an zu predigen. Er redete von der Wiederkunft Christi. Er sagte, der 2.   Oktober 1951 sei der Tag des Jüngsten Gerichts, und er suchte sich unter den Betrunkenen bestimmte Leute heraus und schrie sie mit rauher, brüchiger Stimme an. Vor lauter Aufregung lief ihm das Wasser im Mund zusammen, so dass die Worte feucht und gurgelnd herauskamen. Wenn er sich erst einmal eingeschlichen und seine Kiste aufgestellt hatte, konnte man reden, was man wollte, man wurde ihn nicht wieder los. Er schenkte Jake eine Gideon-Bibel und ermahnte ihn, jeden Abend eine Stunde lang auf den Knien zu beten und jedes Glas Bier und jede Zigarette, die ihm angeboten wurden, von sich zu weisen.
    Sie machten einander die Mauern und Zäune streitig. Auch Jake trug nun immer Kreide in den Taschen. Er schrieb kurze Schlagzeilen, die er möglichst so abfasste, dass die Passanten stutzig werden und über ihren Sinn nachgrübeln mussten. Die Leute sollten sich wundern. Die Leute sollten einmal nachdenken. Außerdem verfasste er Flugblätter, die er auf der Straße verteilte. Eins war sicher: Wäre Singer nicht gewesen, er hätte die Stadt verlassen. Nur sonntags, wenn er bei seinem Freund sein konnte, kam er zur Ruhe. Manchmal gingen sie zusammen spazieren, manchmal spielten sie Schach – meistens aber saßen sie den ganzen Tag über still in Singers Zimmer. Wenn ihm nach Reden zumute war, hörte Singer aufmerksam zu. Saß er den ganzen Tag missmutig herum, so verstand der Taubstumme ganz selbstverständlich, was in ihm vorging. Singer schien jetzt der einzige Mensch zu sein, der ihm helfen konnte.
    Als er eines Sonntags die Treppe hinaufging, sah er Singers Tür offen stehen. Das Zimmer war leer. Über zwei Stunden blieb er allein dort sitzen. Schließlich hörte er Singers Schritte auf der Treppe.
    »Ich hab mir schon Gedanken gemacht. Wo warst du denn?«
    Singer lächelte. Er staubte seinen Hut mit dem Taschentuch ab und legte ihn fort. Dann nahm er bedächtig seinen silbernen Bleistift aus der Tasche und beugte sich über den Kaminsims, um etwas aufzuschreiben.
    »Was soll das heißen?«, fragte Jake, als er es gelesen hatte. »Wem sind die Beine abgenommen worden?«
    Singer nahm den Zettel wieder an sich und fügte noch einige Sätze hinzu.
    »Ha!«, sagte Jake. »Das wundert mich nicht weiter.« Grübelnd starrte er auf das Stück Papier; dann zerknüllte er es. Die Gleichgültigkeit der letzten Monate war vorbei; er fühlte sich unbehaglich und angespannt. »Ha!«, sagte er noch einmal.
    Singer setzte einen Topf mit Kaffee auf und holte sein Schachbrett hervor. Jake riss den Zettel in kleine Stücke, die er zwischen seinen schweißigen Handflächen zerrieb.
    »Aber man kann was dagegen tun«, sagte er nach einer Weile. »Das weißt du doch?«
    Singer nickte unsicher.
    »Ich möchte den Jungen sprechen und die ganze Geschichte hören. Wann kannst du mich mitnehmen?«
    Singer überlegte. Dann schrieb er auf seinen Notizblock: Heute Abend.
    Jake legte die Hand an den Mund und begann ruhelos im Zimmer umherzuwandern. »Wir können etwas tun.«
    13
     
    Jake und Singer warteten auf der Veranda. Sie drückten auf den Klingelknopf, aber man hörte es nicht klingeln in dem dunklen Haus. Jake klopfte ungeduldig an die Tür und drückte die Nase gegen das Gitter. Singer stand unbeweglich neben ihm und lächelte. Seine Wangen waren gerötet von der Flasche Gin, die sie getrunken hatten. Es war ein stiller, dunkler Abend. Endlich sah Jake einen sanftgelben Lichtschimmer in der Diele: Portia öffnete ihnen die Tür.
    »Ich hoffe, Sie haben nicht lange gewartet. So viele Leute sind gekommen,

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