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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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könnt. Meinetwegen, bleibt einfach sitzen und lacht, bis ihr verfault!« Als er die Straße hinunterstakste, hörte er noch lang ihr Gelächter und ihre Pfiffe.
    Die Hauptstraße war nun hell erleuchtet. Jake stand an einer Ecke und spielte mit dem Kleingeld in seiner Tasche. In seinem Kopf hämmerte es, und obwohl es noch sehr heiß war, fröstelte ihn. Er dachte an den Taubstummen und wünschte sich sehnlich, zu ihm zu gehen und eine Weile bei ihm zu sitzen. In dem Obst- und Süßigkeitenladen, in dem er nachmittags die Zeitung gekauft hatte, wählte er einen in Cellophan gewickelten Obstkorb aus. Der Grieche hinter der Ladentheke wollte sechzig Cent dafür haben. Blieben ihm also noch fünf Cent. Draußen fand er, Früchte seien eigentlich ein komisches Geschenk für einen gesunden Mann. Ein paar Trauben schauten aus dem Cellophan heraus; hungrig zupfte er sie ab.
    Singer war zu Hause. Er saß am Fenster und hatte das Schachspiel vor sich auf dem Tisch. Das Zimmer war genau so, wie Jake es verlassen hatte; der Ventilator lief immer noch, der Krug mit Eiswasser stand neben dem Tisch. Auf dem Bett lagen ein Panamahut und ein Paket; also war der Taubstumme wohl gerade nach Hause gekommen. Mit einer Kopfbewegung deutete Singer auf den Stuhl ihm gegenüber. Er schob das Schachbrett beiseite und lehnte sich, die Hände in den Taschen, zurück. In seiner Miene lag die Frage, was Jake inzwischen erreicht habe.
    Jake stellte das Obst auf den Tisch. »Zur Feier des Tages«, sagte er. »Motto: Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.«
    Der Taubstumme lächelte, aber Jake wusste nicht, ob er ihn verstanden hatte. Singer blickte überrascht auf den Korb und entfernte das Cellophan. Sein Gesichtsausdruck war sehr merkwürdig, als er mit den Früchten hantierte. Jake versuchte diese Miene zu verstehen, kam aber nicht dahinter. Dann lächelte Singer ihn strahlend an.
    »Ich hab heut Nachmittag Arbeit gefunden, auf so ’nem Rummelplatz. Ich soll mich um das Karussell kümmern.«
    Der Taubstumme schien keineswegs überrascht. Er ging zum Wandschrank und holte eine Flasche Wein und zwei Gläser. Sie tranken schweigend. Jake fand, er sei noch nie in einem so stillen Zimmer gewesen. Im Licht der Lampe über ihm sah er sein Spiegelbild auf dem rotglühenden Weinglas, es war merkwürdig verzerrt, so wie er es öfter auf der gewölbten Oberfläche von Krügen und Zinnbechern gesehen hatte: ein eiförmig zusammengedrücktes Gesicht mit einem Schnurrbart, der bis zu den Ohren reichte. Der Taubstumme ihm gegenüber hatte beide Hände um sein Glas gelegt. Der Wein in Jakes Adern begann zu brausen, und vor seinen Augen drehte sich alles – wie in einem Kaleidoskop. Er war so durcheinander, dass sein Schnurrbart zu zittern begann. Er beugte sich, die Ellenbogen auf den Knien, vor und starrte Singer neugierig forschend an.
    »Wetten, dass ich hier in der Stadt der Einzige bin, der so richtig wütend ist – ich meine so ’ne richtige Stinkwut, und das seit gut zehn Jahren. Grade vorhin war ich verdammt nah an ’ner Prügelei. Manchmal kommt’s mir so vor, als wär ich verrückt. Ich bin mir aber nicht sicher.«
    Singer schob seinem Gast den Wein hin. Jake trank aus der Flasche und rieb sich den Kopf.
    »Weißt du, das ist, als ob ich zwei Menschen wäre. Der eine ist ein gebildeter Mann. Ich hab viel Zeit in einer der größten Bibliotheken des Landes verbracht. Gelesen hab ich. Die ganze Zeit gelesen. Ich hab Bücher gelesen, in denen die reine, ehrliche Wahrheit steht. In meinem Koffer da hab ich Bücher von Karl Marx und von Thorstein Veblen und so ähnlichen Schriftstellern. Ich hab sie immer wieder gelesen, und je mehr ich darin lese, umso wütender werd ich. Ich kenn jedes Wort auf jeder Seite. Erstens mal – ich hab was übrig für diese Wörter.« Jake formte eine jede Silbe mit feierlicher Hingabe: »Dialektischer Materialismus – jesuitische Mentalreservation – teleologische Propensität.«
    Der Taubstumme wischte sich mit einem sauber gefalteten Taschentuch über die Stirn.
    »Aber worauf ich hinauswill, ist Folgendes: Wenn einer wirklich Bescheid weiß und wenn er’s den andern nicht begreiflich machen kann – was soll er dann machen?«
    Singer langte nach einem Weinglas, füllte es bis zum Rand und drückte es Jake in die schwielige Hand. »Betrunken, was?«, fragte Jake und zuckte mit dem Arm, so dass etwas Wein auf seine weiße Hose schwappte. »Hör zu. Wohin man sieht – nichts wie Gemeinheit und

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