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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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breitete sich der Kohlgeruch in dem stickigen Raum aus. Das Ticken der Schrankuhr war sehr laut in der Stille; und nach ihren letzten Worten hörte sich das monotone Ticktack an wie ›Kin – der, Kin – der‹, endlos wiederholt.
    Überall Kinder: Sie krabbelten nackt auf dem Fußboden herum, waren ins Murmelspiel vertieft oder standen Arm in Arm an einer dunklen Straßenecke. Die meisten Jungen hießen Benedict Copeland und die Mädchen Benny Mae, Madyben oder Benedine Madine. Er hatte sie einmal gezählt: Mehr als ein Dutzend trugen seinen Namen.
    Dabei hatte er sein Leben lang geredet, aufgeklärt und gemahnt. Ihr dürft das nicht tun, sagte er oft. Gegen dieses sechste, fünfte oder neunte Kind sprechen so viele Gründe. Wir sollten nicht noch mehr Kinder in die Welt setzen, sondern denen, die bereits auf der Welt sind, bessere Chancen ermöglichen. Geburtenkontrolle, predigte er, das ist es, was die Neger brauchen. Er ermahnte sie mit den immer gleichen einfachen Worten, die ihm mit den Jahren wie ein zorniges Gedicht vorkamen, das er schon immer auswendig gekonnt hatte.
    Er kannte und studierte jede neue Theorie. Er bezahlte die Hilfsmittel, die er seinen Patienten gab, aus eigener Tasche. Außer ihm dachte hier in der Stadt kein Arzt über das Thema nach. Er half und klärte auf, und half und redete. Und dennoch: über vierzig Entbindungen in der Woche. Madyben und Benny Mae.
    Das war nur ein Punkt. Nur einer.
    Nie in seinem Leben hatte er an dem Sinn seiner Arbeit gezweifelt. Er hatte immer gewusst, dass er dazu berufen war, sein Volk aufzuklären. Den ganzen Tag über ging er mit seiner Tasche von Haus zu Haus, und es gab nichts, worüber er nicht mit ihnen redete.
    Am Ende eines solchen Tages überkam ihn eine tiefe Müdigkeit, die aber sofort verflog, wenn er seine Haustür aufschloss. Da waren Hamilton und Karl Marx, Portia und der kleine William. Und Daisy.
    Portia hob den Deckel vom Topf und rührte mit einer Gabel den Kohl um. »Vater…«, sagte sie nach einer Weile.
    Doktor Copeland räusperte sich und spuckte in ein Taschentuch. Seine Stimme klang bitter und rauh: »Ja?«
    »Lass uns aufhören mit diesen Streitereien.«
    »Aber wir haben doch nicht gestritten.«
    »Man braucht keine Worte für einen Streit«, sagte Portia. »Mir kommt’s vor, als wenn wir immer streiten, selbst wenn wir ganz still dasitzen wie jetzt. So fühlt sich das jedenfalls an. Jedes Mal, wenn ich zu dir komm, bin ich hinterher ganz kaputt. Das ist die Wahrheit. Können wir nicht versuchen, gar nicht mehr zu streiten?«
    »Mir liegt bestimmt nichts an einem Streit. Es tut mir leid, dass du dieses Gefühl hast, meine liebe Tochter.«
    Sie goss Kaffee ein und reichte ihrem Vater eine Tasse ohne Zucker. In ihre tat sie mehrere gehäufte Löffel. »Ich bin richtig hungrig, das wird bestimmt gut schmecken. Trink deinen Kaffee, und ich erzähl dir, was uns vor ’ner Weile passiert ist. Jetzt, wo alles vorbei ist, klingt’s ein bisschen komisch, aber damals konnten wir gar nicht darüber lachen.«
    »Erzähl nur«, sagte Doktor Copeland.
    »Also – vor einiger Zeit kommt hier in die Stadt ein wirklich gutaussehender, fein angezogener Farbiger. Er nannte sich Mr.   B.   F.   Mason und sagte, er kommt aus Washington. Tag für Tag geht er in den Straßen auf und ab, mit einem Spazierstöckchen und ’nem hübschen bunten Hemd an. Abends hat er immer im Café Society gesessen. Und essen tat er vornehmer als irgendjemand anders hier. Jeden Abend eine Flasche Gin und zwei Schweinskoteletts. Immer alle Leute angelächelt, immer vor allen Mädchen verbeugt und Tür aufgehalten, wenn man rein- oder rausgeht. Nach einer Woche hat er sich überall mächtig beliebt gemacht. Die Leute fingen an sich zu wundern über den reichen Mr.   Mason. Dann, ziemlich bald, nachdem er überall bekannt war, fing er mit seinen Geschäften an.«
    Portia spitzte die Lippen und pustete in ihre Tasse. »Vielleicht hast du in der Zeitung gelesen von dieser Regierungssache für alte Leute?«
    Doktor Copeland nickte. »Eine Art Pension«, sagte er.
    »Gut – damit hatte er was zu tun. Er war von der Regierung. Er war hergekommen vom Präsident in Washington und sollte alle aufrufen für diese Regierungssache. Er geht von einer Tür zur andern und sagt, dass man einen Dollar Beitritt bezahlen muss und dann diese 25   Cent in der Woche – und wenn man fünfundvierzig Jahre alt ist, zahlt die Regierung fünfzig Dollar im Monat, das ganze Leben lang. Alle

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