Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
saßen in dem stillen Zimmer und redeten – denn sie spürten, dass der Taubstumme sie immer verstehen würde, was sie ihm auch sagen wollten. Vielleicht verstand er sogar noch viel mehr.
Zweiter Teil
1
Dieser Sommer war anders als jeder andere, den Mick erlebt hatte. Nicht dass viel geschehen wäre, was sie hätte in Gedanken oder Worte fassen können – sie spürte nur, dass sich etwas veränderte. Sie kam aus der Aufregung nicht mehr heraus. Morgens konnte sie es nicht erwarten, aus dem Bett zu kommen und den Tag zu beginnen. Und abends fand sie es grauenvoll, wieder ins Bett zu müssen.
Gleich nach dem Frühstück zog sie mit den Kindern los. Sie waren fast den ganzen Tag unterwegs und kamen nur zum Essen nach Hause. Meist trieben sie sich einfach in der Stadt herum: Sie zog den Wagen mit Ralph, und Bubber trottete hintendrein. Und immer war sie in Gedanken vertieft und mit ihren Plänen beschäftigt. Manchmal schaute sie plötzlich hoch und fand sich in einem Stadtteil, den sie gar nicht kannte. Ein- oder zweimal trafen sie Bill, aber sie war derart in Gedanken versunken, dass sie ihn erst bemerkte, als er sie beim Arm fasste.
Frühmorgens war es rech frisch, und die Schatten vor ihnen auf dem Trottoir zogen sich in die Länge. Um die Mittagszeit aber war der Himmel immer glühend heiß. Das grelle Licht blendete so sehr, dass man kaum die Augen offenhalten konnte. Eis und Schnee spielten in ihren Zukunftsplänen oft eine große Rolle. Manchmal war sie weit weg, in der Schweiz – alle Berge waren mit Schnee bedeckt, und sie lief auf kaltem, grünlich schimmerndem Eis Schlittschuh. Mister Singer lief mit ihr Schlittschuh. Vielleicht auch Carol Lombard oder Arturo Toscanini, der immer im Radio zu hören war. Sie liefen alle zusammen Schlittschuh, und dann brach Mister Singer auf dem Eis ein, und sie stürzte ihm nach, trotz der Lebensgefahr, schwamm unter dem Eis zu ihm und rettete ihm das Leben. Das war so einer von den Plänen, die ihr durch den Kopf gingen.
Wenn sie eine Weile herumgelaufen waren, stellte sie Bubber und Ralph meist an einem schattigen Plätzchen ab. Bubber war ein prima Kerl, sie hatte ihn ganz gut erzogen. Wenn sie ihm sagte, er dürfe nur so weit weggehen, dass er Ralph noch brüllen hörte, hielt er sich auch dran. Nie wäre er zwei oder drei Blocks weiter zu den andern Kindern gegangen. Er spielte still für sich in der Nähe des Wagens, so dass sie die beiden unbesorgt allein lassen konnte. Sie ging dann entweder in die Bibliothek, um sich den National Geographic anzusehen, oder sie bummelte herum und dachte weiter nach. Wenn sie etwas Geld dabeihatte, kaufte sie sich bei Mister Brannon eine Coca-Cola oder ein Milky Way. Kinder bekamen bei ihm Rabatt. Was sonst fünf Cent kostete, gab er ihnen für drei Cent.
Aber was sie auch tat – immer war da Musik. Manchmal summte sie beim Gehen vor sich hin, und ein andermal lauschte sie still in sich hinein. Sie hatte ganz unterschiedliche Musik in sich. Einiges hatte sie im Radio gehört, und anderes steckte einfach in ihr, ohne dass sie es irgendwo gehört hatte.
Abends, wenn die Kleinen im Bett lagen, war sie frei. Das war für sie die allerwichtigste Zeit. Im Dunkeln, wenn sie ganz allein war, passierte so vieles. Gleich nach dem Abendbrot rannte sie wieder aus dem Haus. Sie konnte über das, was sie abends machte, mit keinem Menschen sprechen. Wenn ihre Mama sie ausfragen wollte, erzählte sie ihr irgendeine Geschichte, die einigermaßen glaubwürdig klang. Meistens aber rannte sie, wenn sie gerufen wurde, einfach weg, als hätte sie nichts gehört. Das funktionierte bei allen, nur nicht bei ihrem Papa. In seiner Stimme war etwas, dass sie nicht weglaufen konnte. Er war einer der größten und kräftigsten Männer der Stadt. Aber er hatte eine so sanfte und gütige Stimme, dass man überrascht war, sobald er zu sprechen begann. Sie mochte es noch so eilig haben – wenn ihr Papa rief, musste sie innehalten.
In diesem Sommer entdeckte sie etwas an ihrem Papa, das ihr bis dahin nicht aufgefallen war. Sie hatte ihn nie recht als eine einzelne Person gesehen. Er rief sie wer weiß wie oft. Sie ging dann ins Vorderzimmer, in dem er arbeitete, und stand ein paar Minuten bei ihm herum – aber ihre Gedanken waren, während sie ihm zuhörte, ganz woanders. Bis sie eines Abends plötzlich merkte, was mit ihrem Papa los war. Es geschah an diesem Abend nichts Außergewöhnliches, und sie wusste auch nicht, wieso sie es auf einmal begriff.
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