Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Nur fühlte sie sich hinterher älter und glaubte ihn nun so gut zu kennen, wie man einen Menschen eben kennen konnte.
Gegen Ende August war das, an einem Abend, an dem sie es sehr eilig hatte. Sie musste unbedingt um neun bei einem bestimmten Haus sein. Ihr Papa rief nach ihr, und sie ging ins Vorderzimmer. Er saß zusammengesunken an seiner Werkbank. Aus irgendeinem Grund war es immer merkwürdig, ihn dort sitzen zu sehen. Bis zu seinem Unfall im vorigen Jahr war er Maler und Tischler gewesen. Er war jeden Morgen vor Tagesanbruch in seinem Overall aus dem Haus gegangen und den ganzen Tag über fortgeblieben. Abends bastelte er manchmal noch an Uhren herum. Lange Zeit hatte er sich um eine Anstellung bei einem Juwelier bemüht. Dort hätte er den ganzen Tag über mit sauberem Hemd und Schlips ungestört am Arbeitstisch sitzen können. Nun, da er nicht mehr tischlern konnte, hatte er am Haus eine Tafel angebracht: HIER WERDEN ALLE UHREN BILLIG REPARIERT.
Er sah aber gar nicht wie ein Juwelier aus – die in der Stadt waren fixe, dunkle kleine Juden. Ihr Papa war zu groß für die Werkbank, und es wirkte so, als säßen seine langen Knochen nicht richtig fest.
Ihr Papa starrte sie an. Sie wusste genau, dass er ohne einen bestimmten Grund nach ihr gerufen hatte. Er wollte sich nur unbedingt mit ihr unterhalten. Und nun wusste er nicht, wie er anfangen sollte. Seine braunen Augen waren für sein langes, hageres Gesicht viel zu groß. Er hatte kein einziges Haar mehr auf dem Schädel und sah irgendwie nackt aus mit seiner Glatze. Er schaute sie immer noch wortlos an, während sie es doch so eilig hatte. Punkt neun musste sie bei dem Haus sein und hatte keine Zeit zu verlieren. Ihr Papa merkte, dass sie es eilig hatte, und räusperte sich.
»Hier hab ich was für dich«, sagte er. »Nicht viel, aber vielleicht kannst du dir was zum Naschen kaufen.«
Er hätte ihr nicht fünf oder zehn Cent geben müssen, bloß weil er sich einsam fühlte und reden wollte. Von seinem Verdienst behielt er gerade so viel, dass er sich zweimal wöchentlich Bier leisten konnte. Auch jetzt standen auf dem Boden neben seinem Stuhl zwei Flaschen – eine leere und eine angebrochene. Wenn er Bier trank, unterhielt er sich gern. Ihr Papa fummelte an seinem Gürtel herum, und sie blickte weg. Er war in diesem Sommer geradezu kindisch geworden mit diesen Fünf- und Zehncentstücken, die er immer versteckte. Er steckte sie in die Schuhe oder auch in den Gürtel, in den er einen kleinen Schlitz gemacht hatte. Eigentlich war es ihr nicht recht, die zehn Cent anzunehmen; aber als er ihr das Geldstück reichte, öffnete sich ihre Hand wie von allein.
»Ich hab so viel Arbeit, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll«, sagte er.
Genau das Gegenteil war der Fall, das wusste er genauso gut wie sie. Er bekam nie viele Uhren zum Reparieren. Wenn er nichts mehr zu tun hatte, ging er im Haus herum und versuchte sich irgendwie nützlich zu machen. Abends saß er dann an seiner Werkbank, reinigte alte Federn und Rädchen und suchte die Arbeit in die Länge zu ziehen, bis es Zeit zum Schlafengehen war. Seit er sich den Hüftknochen gebrochen hatte und nicht mehr richtig arbeiten konnte, musste er sich immer irgendwie beschäftigen.
»Ich hab heut Abend über allerlei nachgedacht«, sagte ihr Papa. Er goss sich Bier ein und streute sich etwas Salz auf den Handrücken. Dann leckte er das Salz auf und nahm einen Schluck.
Sie hatte es so eilig, dass sie kaum stillstehen konnte. Ihr Papa merkte das. Er versuchte etwas zu sagen – aber er hatte sie ja aus keinem bestimmten Grund gerufen. Er wollte nur ein bisschen mit ihr plaudern. Er setzte zum Sprechen an und schluckte einmal. Sie sahen einander an. Die Stille breitete sich immer weiter aus, und keiner von ihnen brachte ein Wort heraus.
Da wurde ihr auf einmal klar, was mit ihrem Papa los war. Eigentlich erfuhr sie damit nichts wirklich Neues – sie hatte es schon die ganze Zeit gewusst, nur nicht mit dem Verstand. Nun plötzlich wusste sie, dass sie über ihren Papa Bescheid wusste. Er war einsam, und er war ein alter Mann. Er fühlte sich von der Familie ausgeschlossen, weil keines der Kinder mit irgendetwas zu ihm kam und weil er nicht viel Geld verdiente. In seiner Einsamkeit wollte er einem seiner Kinder nahe sein – aber sie waren alle so beschäftigt, dass sie es nicht merkten. Er spürte, dass niemand ihn wirklich brauchte.
Das alles wurde ihr klar, während sie einander ansahen. Ein
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