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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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an. Er setzte sich an den Tisch, zu seinen Büchern, zu Spinoza, William Shakespeare und Karl Marx. Er las sich laut aus dem Spinoza vor, und die Worte hatten einen vollen, dunklen Klang.
    Er dachte an den weißen Mann, von dem sie gesprochen hatten. Er dachte, es wäre gut, wenn der weiße Mann ihm bei seinem tauben Patienten Augustus Benedict Mady Lewis helfen könnte. Es wäre gut, einmal an diesen weißen Mann zu schreiben, auch ohne einen Anlass. Doktor Copeland stützte den Kopf auf die Hände, und seiner Kehle entrang sich ein seltsamer Ton, wie ein Klagelaut. Er sah das Gesicht des weißen Mannes vor sich, wie er ihm in der Regennacht hinter der Streichholzflamme zugelächelt hatte – und fand Frieden.
    6
     
    Im Laufe des Hochsommers bekam Singer häufiger Besuch als alle anderen Leute im Haus. Fast jeden Abend hörte man aus seinem Zimmer eine Stimme. Nach dem Essen im Café New York badete er, zog sich einen leichten Anzug an und ging in der Regel nicht mehr aus. Das Zimmer war angenehm kühl. In seinem Wandschrank hatte er eine Kühltruhe mit Flaschenbier und Fruchtsäften. Er war nie beschäftigt oder in Eile. Und seine Gäste begrüßte er schon an der Tür mit einem Lächeln.
    Mick ging sehr gern zu Mister Singer hinauf. Er war zwar stocktaub und stumm wie ein Fisch, verstand aber jedes Wort, das sie zu ihm sagte. Mit ihm zu reden war wie ein Spiel. Nur dass sehr viel mehr daran war als an jedem Spiel – es war so, als würde man etwas Neues über die Musik erfahren. Sie erzählte ihm, was sie keinem anderen Menschen erzählt hätte: von ihren Plänen. Sie durfte mit seinen niedlichen kleinen Schachfiguren herumspielen. Als sie einmal vor lauter Aufregung mit dem Hemdzipfel im elektrischen Ventilator hängen blieb, war er so freundlich zu ihr, dass sie sich gar nicht dafür schämen musste. Außer ihrem Papa war Mister Singer der netteste Mann, den sie kannte.
    Als Doktor Copeland John Singer ein paar Zeilen wegen Augustus Benedict Mady Lewis schrieb, erhielt er eine höfliche Antwort, verbunden mit der Aufforderung, ihn bei nächster Gelegenheit zu besuchen. Doktor Copeland ging zuerst nach hinten in die Küche zu Portia. Dann stieg er die Treppe zum Zimmer des weißen Mannes hinauf. Wahrhaftig, dieser Mann hatte nichts von jener typischen Unverschämtheit an sich. Sie tranken zusammen eine Limonade, und der Taubstumme antwortete schriftlich auf Doktor Copelands Fragen. Dieser Mann war anders als alle Menschen der weißen Rasse, denen Doktor Copeland je begegnet war. Später grübelte er lange über diesen Weißen nach. Und da Singer ihn herzlich aufgefordert hatte, wiederzukommen, machte er ihm nach einiger Zeit einen zweiten Besuch.
    Jake Blount kam jede Woche vorbei. Wenn er zu Singers Zimmer hinaufging, wackelte die ganze Treppe. Meistens brachte er in einer Papiertüte ein paar Flaschen Bier mit. Oft klang seine Stimme laut und zornig. Aber vor dem Abschied wurde sie allmählich leiser, und wenn er die Treppe hinunterging, hatte er keine Tüte mit Bierflaschen mehr bei sich. Ohne auf den Weg zu achten, ging er gedankenverloren davon.
    Sogar Biff Brannon kam eines Abends zu dem Taubstummen. Aber da er dem Restaurant nie lange fernbleiben konnte, ging er nach einer halben Stunde wieder fort.
    Singer war immer derselbe, gleich mit wem er sprach. Er saß, die Hände tief in den Taschen vergraben, auf einem geradlehnigen Stuhl am Fenster und nickte oder lächelte, zum Zeichen, dass er seine Gäste verstand.
    Wenn Singer abends keinen Besuch hatte, ging er in die Spätvorstellung im Kino. Er lehnte sich bequem zurück und betrachtete die Schauspieler dabei, wie sie auf der Leinwand herumliefen und miteinander redeten. Er kümmerte sich nie darum, welcher Film angekündigt war, und sah sich jede Szene mit dem gleichen Interesse an.
    Dann, eines Julitags war Singer plötzlich fort. Seine Zimmertür stand offen, und auf dem Tisch lag ein an Mrs.   Kelly adressierter Umschlag mit vier Dollar für die Miete der letzten Woche. Seine wenigen, bescheidenen Habseligkeiten waren verschwunden; das Zimmer war sehr ordentlich und kahl. Als seine Besucher kamen und das Zimmer leer fanden, gingen sie enttäuscht wieder fort. Und alle fragten sich, warum er wortlos verschwunden war.
    Singer verbrachte seinen ganzen Sommerurlaub in der Stadt, in der Antonapoulos in der Anstalt war. Er hatte diese Reise seit Monaten geplant und sichjeden Augenblick ihres Zusammenseins ausgemalt. Vierzehn Tage vorher hatte er das

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