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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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vorbei!«
    Nun gehörte die stille, geheimnisvolle Nacht wieder ihr allein. Es war nicht sehr spät – man sah noch die gelb leuchtenden Quadrate der Fenster zur Straße hin. Sie ging langsam, die Hände in den Taschen, den Kopf zur Seite gelegt. Lange Zeit ging sie, ohne zu wissen, wohin.
    Dann wurden die Abstände zwischen den Häusern größer; es kamen Gärten mit hohen Bäumen und dunklem Gebüsch. Sie sah sich um: Sie war nicht weit von dem Haus, zu dem sie diesen Sommer so oft gegangen war. Ihre Füße hatten sie hergetragen, ohne dass sie es gemerkt hatte. Vor dem Haus wartete sie, um sicherzugehen, dass niemand sie sähe. Dann schlich sie von der Seite her in den Garten.
    Wie immer lief das Radio. Eine Weile stand sie vor dem Fenster und beobachtete die Leute im Zimmer. Der kahlköpfige Mann und die grauhaarige Dame saßen am Tisch und spielten Karten. Mick setzte sich auf die Erde. Ein schönes Versteck war das. Sie war umringt von kräftigen Zedern und saß ganz für sich allein. Heute Abend war das Programm nicht gut – jemand sang Volkslieder, die alle ähnlich aufhörten. Sie fühlte sich innerlich ganz leer. Sie durchsuchte ihre Taschen: ein paar Rosinen, ein Dollar, eine Perlenschnur und – eine Zigarette und Streichhölzer. Sie zündete die Zigarette an und legte die Arme um ihre Knie. Sie fühlte sich so leer, als wäre nicht ein Gefühl in ihr, nicht ein Gedanke.
    Eine Sendung nach der anderen – lauter Quatsch. Es machte ihr aber nicht besonders viel aus. Sie rauchte und zupfte ein Büschel Grashalme aus. Nach einer Weile kam ein neuer Ansager. Er redete etwas von Beethoven. Über diesen Musiker hatte sie in der Bibliothek gelesen. Ein Deutscher wie Mozart. Er hatte eine fremde Sprache gesprochen und in einer fremden Stadt gewohnt – wie sie es auch gern tun würde. Der Ansager kündigte seine dritte Sinfonie an. Sie hörte nur halb hin, weil sie noch etwas herumlaufen wollte und weil ihr ziemlich egal war, was sie da spielten. Dann fing die Musik an. Mick hob den Kopf und fuhr sich mit der Faust an die Kehle.
    Was war das? Am Anfang schwang die Musik mal in die eine, mal in die andere Richtung. Wie beim Gehen oder wenn man marschierte. Als würde Gott durch die Nacht schreiten. Sie war außen plötzlich eiskalt; aber in ihrem Herzen brannten die ersten Takte der Musik. Sie konnte nicht einmal hören, was dann weiter kam. Wie erstarrt saß sie da, mit geballten Fäusten, und wartete. Nach einer Weile kam die erste Melodie zurück, nun heftig und laut. Das hatte nichts mit Gott zu tun. Das war sie, Mick Kelly, wie sie tagsüber herumging, oder nachts, ganz allein. In der heißen Sonne und in der Dunkelheit, mit all ihren Plänen und Gefühlen. Diese Musik war sie – so war sie wirklich.
    Sie konnte nicht so zuhören, dass sie alles erfasste. Die Musik brodelte in ihr. Was tun? Sollte sie bei den schönsten Stellen innehalten und darüber nachdenken, damit sie nichts vergaß – oder sollte sie einfach nur lauschen und nicht nachdenken und auch nichts behalten wollen? Donnerwetter! Die ganze Welt war in dieser Musik, und sie wusste nicht, wie sie das alles hören sollte. Dann, am Schluss kam die Anfangsmusik wieder, diesmal alle Instrumente zusammen; und jede Note schlug wie eine harte, geballte Faust gegen ihr Herz. Der erste Satz war vorbei.
    Diese Musik dauerte nicht lang, aber auch nicht kurz. Sie hatte überhaupt nichts mit der verrinnenden Zeit zu tun. Mick saß da, die Arme fest um die Beine geschlungen, und biss sich in die salzig schmeckenden Knie. Vielleicht waren es nur fünf Minuten, vielleicht aber auch die halbe Nacht. Der zweite Satz war düster – ein langsamer Marsch. Nicht traurig, aber so, als wäre die ganze Welt tot und schwarz und als hätte es keinen Sinn, daran zu denken, wie’s vorher gewesen war. Eins von diesen Blasinstrumenten spielte eine traurige, silbrige Melodie. Dann ballte es sich wieder erregt und böse zusammen. Und am Schluss kam wieder der düstere Marsch.
    Vielleicht war der letzte Satz der Sinfonie das Allerschönste – fröhlich und so, als ob die besten Leute der Welt frei herumliefen und in die Höhe sprangen. Nichts war so schmerzhaft wie diese wundervolle Musik. Die ganze große Welt lag darin, und sie war viel zu klein, um sie richtig zu hören.
    Es war vorbei. Sie blieb steif sitzen, die Arme um die Knie. Im Radio lief die nächste Sendung, und sie steckte die Finger in die Ohren. Die Musik hatte in ihr nur diesen schlimmen Schmerz und eine

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