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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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Leere hinterlassen. Sie konnte sich an keinen Takt mehr erinnern, nicht einmal an die letzten paar Noten. Sie strengte sich an, aber kein Ton fiel ihr ein. Es war vorbei; und da war nichts mehr als dieser furchtbare Schmerz in ihrem kleinen Hasenherzen.
    Das Radio und die Lichter im Haus wurden abgedreht. Die Nacht war sehr dunkel. Plötzlich begann Mick sich mit den Fäusten auf den Schenkel zu schlagen. Sie trommelte mit aller Kraft immer auf denselben Muskel, bis ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Es tat immer noch nicht weh genug. Unter dem Busch lagen spitze Steine. Sie nahm eine Handvoll und kratzte damit immer auf derselben Stelle herum, bis ihre Hand voller Blut war. Dann ließ sie sich auf den Boden fallen und sah hoch in den Nachthimmel. Mit der brennenden Wunde am Bein ging es ihr jetzt besser. Sie lag schlaff im nassen Gras, und nach einer Weile ging ihr Atem wieder langsam und leicht.
    Wieso hatten die Entdecker, wenn sie in den Himmel schauten, nicht gemerkt, dass die Erde rund ist? Der Himmel wölbte sich wie eine riesige Glaskugel, ganz dunkelblau mit hellen Sternen gesprenkelt. Die Nacht war still. Es roch nach den warmen Zedern. Als sie nicht mehr versuchte, sich zu erinnern, kam die Musik zu ihr zurück. Der erste Satz lief in ihrem Kopf genau so ab, wie er vorhin erklungen war. Sie lauschte still und bedächtig und stellte sich die Musik wie eine Geometrieaufgabe vor, um sie besser zu behalten. Sie sah die Töne ganz deutlich als Formen und würde sie nie mehr vergessen.
    Jetzt fühlte sie sich wohl. Sie flüsterte ein paar Worte vor sich hin: »Herr, vergib mir, denn ich weiß nicht, was ich tue.« Warum dachte sie daran? Seit ein paar Jahren wusste doch jeder, dass es in Wahrheit keinen Gott gab. Wenn sie sich überlegte, was sie sich gewöhnlich unter Gott vorstellte, dann sah sie nur Mister Singer in einem langen weißen Laken vor sich. Gott war stumm – vielleicht erinnerte Mister Singer sie deshalb an ihn. Sie sagte den Satz noch einmal so, wie sie ihn zu Mister Singer gesagt hätte: »Herr, vergib mir, denn ich weiß nicht, was ich tue.«
    Dieser Teil der Musik war schön und klar. Sie konnte ihn nun immer singen, wenn sie wollte. Vielleicht kam später, eines Morgens beim Aufwachen, mehr von der Musik zurück. Wenn sie die Sinfonie je wieder hören sollte, musste sie noch mehr Teile lernen. Und vielleicht – wenn sie die Musik noch viermal hören konnte, nur noch viermal, würde sie alles auswendig können. Vielleicht.
    Noch einmal hörte sie den Anfang der Sinfonie. Dann wurden die Töne langsamer und leise, als sänke sie selber langsam in die dunkle Erde hinab.
    Mick wachte mit einem Ruck auf. Die Luft hatte sich abgekühlt. Kurz vor dem Aufwachen hatte sie geträumt, dass die dumme Etta Kelly ihr die Bettdecke wegzog. »Gib mir was von der Decke…«, wollte sie noch sagen. Dann schlug sie die Augen auf. Der Himmel war ganz schwarz, kein Stern war mehr zu sehen. Das Gras war feucht. Hastig stand sie auf, ihr Papa würde sich Sorgen machen. Dann fiel ihr die Musik ein. Sie hatte keine Ahnung, ob es Mitternacht war oder drei Uhr morgens; höchste Zeit, nach Hause zu gehn; sie lief los. Die Luft roch schon nach Herbst. In ihrem Kopf tönte laut und rasch die Musik, und sie rannte schneller und schneller die Straßen entlang, die nach Hause führten.
    2
     
    Der Oktober brachte blaue, kühle Tage. Biff Brannon ersetzte seine dünnen, blauweiß gestreiften Leinenhosen durch dunkelblaue Sergehosen. Hinter der Theke des Cafés stellte er eine Maschine für heiße Schokolade auf. Mick liebte heiße Schokolade und kam drei- bis viermal in der Woche vorbei, um eine Tasse zu trinken. Er gab sie ihr für fünf Cent statt für zehn. Am liebsten hätte er sie ihr umsonst gegeben. Während sie an der Theke stand, betrachtete er sie traurig und verwirrt. Er hätte gerne die Hand ausgestreckt und ihr über das sonnengebleichte, strubblige Haar gestrichen – aber nicht so, wie er es bei einer Frau getan hätte. Irgendwie war ihm unbehaglich zumute, und wenn er mit ihr sprach, klang seine Stimme rauh und fremd.
    Er hatte viele Sorgen. Vor allem wegen Alice, die sich gar nicht wohl fühlte. Zwar arbeitete sie wie sonst von sieben Uhr früh bis zehn Uhr abends im Lokal und in der Küche, aber sie kam nur sehr langsam von der Stelle und hatte dunkle Ringe um die Augen. Bei der Arbeit merkte man es am deutlichsten, dass sie krank war. Als sie eines Sonntags die Speisekarte tippte, zeichnete sie das

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