Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
Vom Netzwerk:
Spezialmenü, Kingsize Chicken, mit zwanzig Cent anstatt mit fünfzig aus, und sie bemerkte ihr Versehen erst, als schon etliche Gäste bestellt hatten und zahlen wollten. Ein andermal wechselte sie einen Zehndollarschein in zwei Fünfdollar- und drei Eindollarstücke. Biff rieb sich nachdenklich die Nase und sah sie lange mit halbgeschlossenen Augen an.
    Sie sprachen nicht darüber. Nachts, wenn sie schlief, arbeitete er unten, und vormittags führte sie das Restaurant allein. Wenn sie zusammen arbeiteten, blieb er wie üblich hinter der Registrierkasse, von wo aus er Küche und Lokal überblicken konnte. Sie redeten nur über geschäftliche Dinge, aber Biff betrachtete sie immer wieder verwundert.
    Am Nachmittag des achten Oktober drang plötzlich ein Schmerzensschrei aus ihrem Schlafzimmer. Biff stürzte nach oben. Innerhalb einer Stunde war Alice im Krankenhaus. Der Arzt nahm ihr einen fast kindsgroßen Tumor heraus. Eine Stunde später war Alice tot.
    Biff saß fassungslos an ihrem Sterbebett. Er war dabei gewesen, als sie starb. Ihr Blick war vom Äther trübe und benommen gewesen, dann waren ihre Augen hart geworden, wie Glas. Die Schwester und der Arzt zogen sich zurück.
    Er blieb sitzen und betrachtete ihr Gesicht. Abgesehen von der bläulichen Blässe war sie kaum verändert. Er nahm jede Einzelheit in sich auf, als hätte er sie nicht einundzwanzig Jahre lang tagtäglich vor Augen gehabt. Während er so bei ihr saß, wandten seine Gedanken sich allmählich einem Bild zu, das schon lange in ihm war:
    Der kalte, grüne Ozean und der heiße, goldne Strand. Kleine Kinder spielten nah bei den seidigen Schaumkronen. Das kräftige, braune kleine Mädchen; die mageren, nackten kleinen Jungs; die älteren Kinder rannten herum und riefen einander mit süßen, hellen Stimmchen. Manche Kinder kannte er – Mick und seine Nichte Baby –, andere Gesichter waren ihm fremd, er hatte sie noch nie gesehen. Biff ließ den Kopf sinken.
    Nach einer langen Weile stand er auf und blieb mitten im Zimmer stehen. Draußen im Flur hörte er seine Schwägerin Lucile auf und ab gehen.
    Eine dicke Biene krabbelte über die Kommode. Biff schnappte sie sich und warf sie zum offenen Fenster hinaus. Er blickte noch einmal auf das tote Gesicht, dann trat er mit der Würde des Witwers auf den Flur hinaus.
    Am Spätvormittag des nächsten Tages saß er im oberen Zimmer und nähte. Warum? Wenn zwei Menschen sich wirklich liebten, warum folgte dann der Hinterbliebene dem Geliebten nicht viel häufiger durch Selbstmord? Nur weil die Lebenden die Toten begraben müssen? Nur wegen irgendwelcher Rituale, die zu befolgen sind? Weil der Hinterbliebene für ein paar Tage gleichsam unter Beobachtung steht, wie auf einer Bühne, wo jede Sekunde ihm zu einer Ewigkeit wird? Weil er diese Rolle ausfüllen muss? Oder muss er vielleicht auf der Erde bleiben, damit der geliebte Mensch wieder auferstehen kann, um in der Seele des anderen weiterzuleben? Warum?
    Biff beugte sich über seine Näharbeit und dachte über vieles nach. Er war geschickt, und die Schwielen an seinen Fingerspitzen waren so hart, dass er keinen Fingerhut brauchte. Er hatte bereits an zwei graue Anzüge einen Trauerflor genäht, und nun hatte er den letzten Anzug vor sich.
    Der Tag war hell und heiß; auf den Gehsteigen raschelte das erste Herbstlaub. Er war frühmorgens aus dem Haus gegangen. Jede Minute war lang. Endlos viel Zeit lag vor ihm. Er hatte die Tür des Restaurants abgeschlossen und einen weißen Lilienkranz darangehängt. Zuerst ging er zum Bestattungsinstitut. Dort wählte er sorgfältig einen Sarg aus. Er befühlte die Stoffe, mit denen die Särge ausgelegt waren, und prüfte die Stärke der Holzteile.
    »Wie heißt noch mal dieser Krepp? Georgette?«
    Der Unternehmer beantwortete seine Fragen in schmierig-salbungsvollem Ton.
    »Und wie viele Verbrennungen haben Sie durchschnittlich?«
    Wieder auf der Straße, ging Biff steif-gemessen weiter. Ein warmer Westwind wehte, und die Sonne war sehr hell. Seine Uhr war stehengeblieben; er schlug den Weg zu der Straße ein, in der neuerdings Wilbur Kellys Uhrmacherschild hing. Kelly saß in einem geflickten Bademantel an seiner Werkbank. Seine Werkstatt wurde auch als Schlafzimmer benutzt; das Kindchen, das Mick gewöhnlich im Wagen hinter sich herzog, saß ruhig auf einer Matratze am Boden. Jede Minute war so lang, dass alle Zeit der Welt in ihr zu liegen schien. Er sah sich gründlich um und ließ sich alles ganz genau

Weitere Kostenlose Bücher