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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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rundum oder in den Fabriken unten am Fluss arbeiteten.
    Nach dem Abendessen tauchte Mick Kelly mit ihrem kleinen Bruder auf und steckte ein Fünfcentstück in den Automaten. Als sie die erste Münze verspielt hatte, hämmerte sie mit den Fäusten gegen den Automaten und sah immer wieder hinter der Klappe nach, ob da auch wirklich nichts lag. Dann steckte sie noch ein Fünfcentstück hinein und gewann beinahe den Jackpot. Die Münzen klackerten heraus und rollten über den Fußboden. Das Mädchen und ihr kleiner Bruder achteten beim Aufheben sehr genau darauf, dass ihnen auch kein anderer Gast zuvorkam und den Fuß auf eine Münze stellte. Der Taubstumme saß an seinem Tisch beim Essen; ihm gegenüber saß Jake Blount im Sonntagsanzug, trank Bier und redete. Alles war so, wie es schon immer gewesen war. Nach einer Weile wurde die Luft grau von Zigarettenrauch, und der Lärm nahm zu. Biff war wachsam, kein Geräusch, keine Bewegung entging ihm.
    »Ich geh von einem zum andern«, sagte Blount. Er beugte sich vor und sah den Taubstummen unverwandt mit ernster Miene an. »Ich geh vom einen zum andern und versuch’s ihnen klarzumachen. Und sie lachen. Nichts kann ich ihnen begreiflich machen. Was ich auch sage, ich kann sie nicht dazu bringen, die Wahrheit zu sehen.«
    Singer nickte und wischte sich mit der Serviette über den Mund. Sein Essen war kalt geworden, denn er kam nicht dazu, auf seinen Teller zu sehen und zu essen. Weil er aber so höflich war, ließ er Blount weiterreden.
    Die hellen Stimmen der beiden Kinder am Automaten hoben sich klar und deutlich ab vom rauhen Stimmengewirr der Männer. Mick steckte ein Fünfcentstück nach dem anderen in den Schlitz. Hin und wieder sah sie sich nach dem Tisch in der Mitte des Raums um, aber der Taubstumme saß mit dem Rücken zu ihr und bemerkte sie nicht.
    »Mister Singer kriegt zum Abendbrot ein Brathuhn und hat noch nichts gegessen«, sagte der Junge. Mick zog langsam den Hebel des Automaten runter. »Kümmre dich um deinen eigenen Kram.«
    »Immer gehst du hierher oder sonst wo hin, wo du weißt, er ist auch da.«
    »Ich hab gesagt, du sollst den Mund halten, Bubber Kelly.«
    »Halt du doch den Mund.«
    Mick schüttelte ihn, bis ihm die Zähne klapperten, und schob ihn zur Tür. »Geh jetzt nach Hause und ins Bett. Ich hab dir doch gesagt, ich hab schon tagsüber die Nase voll von dir und Ralph, da brauchst du nicht auch noch abends hinter mir herzotteln, wenn ich endlich mal freihab.«
    Bubber streckte seine schmutzige kleine Hand aus: »Gut, dann gib mir fünf Cent.«
    Als er das Geld in seine Brusttasche gesteckt hatte, ging er nach Hause.
    Biff zog sich sein Jackett zurecht und strich sich über das Haar. Er trug einen schlichten schwarzen Schlips und um den Ärmel des grauen Jacketts den Trauerflor, den er gestern angenäht hatte. Er wäre gern zum Automaten gegangen, um sich mit Mick zu unterhalten, aber etwas hielt ihn zurück. Er zog die Luft heftig ein und trank ein Glas Wasser. Im Radio spielte jetzt ein Tanzorchester, aber er mochte nicht zuhören. Alle Schlager der letzten zehn Jahre waren einander so ähnlich, dass er sie nicht auseinanderhalten konnte. Seit 1928 machte ihm Musik keinen Spaß mehr. Als er jung war, hatte er Mandoline gespielt und die Texte und Melodien aller Schlager auswendig gekannt.
    Er legte den Kopf zur Seite und rieb sich die Nase. Mick war im letzten Jahr so in die Höhe geschossen, dass sie bald größer sein würde als er. Sie hatte, wie täglich seit Schulbeginn, den roten Sweater und den blauen Faltenrock an. Die Falten waren inzwischen rausgegangen, und der Rocksaum schlotterte um ihre spitzen Knie. Sie war in dem Alter, in dem viele Mädchen auch als schlaksige Jungen durchgehen. Wieso übersahen die klügsten Leute immer diesen Punkt? Von Natur aus sind doch alle Menschen zweigeschlechtlich. Es kommt weiß Gott nicht nur auf die Ehe und das Bett an. Man braucht nur die Jugend und die Greise zu betrachten: Alte Männer bekommen oft hohe, piepsige Stimmen und einen trippelnden Gang; alte Frauen dagegen werden dick und bekommen rauhe, tiefe Stimmen und kleine, dunkle Schnurrbärte. Er selber war der lebende Beweis: die fast mütterliche Sehnsucht in ihm, Kinder zu haben wie Mick und Baby. Mit einem Ruck wandte Biff sich von der Registrierkasse ab.
    Die Zeitungen waren in Unordnung geraten. Seit zwei Wochen hatte er sie nicht mehr geordnet. Er zog einen Stapel unter der Theke hervor. Mit geschultem Blick überflog er die

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