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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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Blätter von der Schlagzeile bis unten hin. Morgen würde er alle Zeitungsstapel im Hinterzimmer durchsehen und nach einem neuem System ordnen. Man könnte Regale aufstellen und alte Konservenkisten als Fächer nutzen. In Mappen geheftet, chronologisch vom 27.   Oktober 1918 bis zum heutigen Tag, historische Ereignisse durch kleine Reiter markiert. Nach drei Gesichtspunkten geordnet: erstens internationale Ereignisse vom Waffenstillstand bis zu den Nachwirkungen von München; zweitens Ereignisse von nationaler Bedeutung; drittens Lokalnachrichten, angefangen damit, wie Bürgermeister Lester seine Frau erschoss, bis zum Brand der Hudson-Fabrik. Alle Ereignisse der letzten zwanzig Jahre, vollständig beisammen, schön geordnet und mit Stichwörtern versehen. Biff rieb sich das Kinn und strahlte hinter vorgehaltener Hand. Alice hatte vorgehabt, die Zeitungen fortzuschaffen, weil sie aus dem Raum eine Damentoilette machen wollte. Ständig hatte sie deswegen gequengelt, aber diesmal hatte er sie untergekriegt. Dieses eine Mal.
    Biff vertiefte sich friedlich in die Artikel der Zeitung vor ihm. Er las beharrlich und konzentriert, aber nebenher blieb er – aus Gewohnheit – wachsam für alles, was um ihn geschah. Jake Blount redete immer noch und schlug ab und zu mit der Faust auf den Tisch. Der Taubstumme schlürfte langsam sein Bier. Mick strich ruhelos um das Radio herum und starrte die Gäste an. Biff las das Blatt Wort für Wort und machte sich am Rand Notizen.
    Plötzlich hob er überrascht den Kopf. Sein Mund war zum Gähnen geöffnet und schnappte plötzlich zu. Das Radio spielte ein altes Lied aus seiner und Alices Verlobungszeit. ›Just a Baby’s Prayer at Twilight.‹ Sie waren eines Sonntags mit der Straßenbahn zum Old Sardis See hinausgefahren und hatten ein Ruderboot gemietet. Beim Sonnenuntergang hatte er auf seiner Mandoline gespielt, sie hatte dazu gesungen, und als er den Arm um sie legte, hatte sie – Alice…
    Ein Köder für verlorene Gefühle. Biff faltete die Zeitung zusammen und legte sie wieder unter die Theke. Er trat von einem Fuß auf den anderen. Schließlich rief er zu Mick hinüber: »Du hörst gar nicht zu, oder?«
    Mick stellte das Radio ab. »Nein. Heute Abend läuft nichts.«
    Er musste sich all das aus dem Kopf schlagen und sich auf etwas anderes konzentrieren. Er lehnte sich über die Theke und beobachtete der Reihe nach die Gäste. Schließlich blieb seine Aufmerksamkeit an dem Taubstummen haften. Er sah, wie Mick sich ihm langsam näherte und er sie aufforderte, sich zu ihm zu setzen. Singer zeigte auf die Speisekarte, und die Kellnerin brachte eine Coca-Cola für Mick. Nur eine solche Missgeburt wie ein Taubstummer brachte es fertig, ein anständiges junges Mädchen an seinen Tisch zu bitten, wo er mit einem andern Mann saß und trank. Blount und Mick sahen Singer an. Sie redeten, und der Taubstumme beobachtete sie mit wechselndem Mienenspiel. Komische Sache. Lag das nun an ihnen oder an ihm? Er saß ganz ruhig da, die Hände in den Taschen; und weil er nicht sprach, schien er allen überlegen zu sein. Was für Gedanken und Erkenntnisse hatte dieser Kerl? Was wusste er?
    Zweimal im Laufe des Abends wollte Biff zu seinem Tisch hinübergehen, aber jedes Mal besann er sich anders. Als sie weg waren, überlegte er immer noch, was es mit dem Taubstummen auf sich hatte. Als er bei Morgengrauen im Bett lag, wälzte er Fragen und Antworten in seinem Kopf, ohne zu einer befriedigenden Lösung zu kommen. Das Rätsel hatte sich in ihm festgesetzt. Es machte ihm zu schaffen und ließ ein unbehagliches Gefühl in ihm zurück. Irgendetwas stimmte da nicht.
    3
     
    Doktor Copeland saß oft bei Mister Singer und unterhielt sich mit ihm. Er war wirklich nicht wie die anderen Weißen. Er war ein weißer Mann und erfasste das eine große, wahre Ziel, wie andere Weiße es nicht begreifen konnten. Er hörte zu, und auf seinem Gesicht lag ein sanfter Ausdruck; etwas Jüdisches war an ihm: das Wissen darum, einer unterdrückten Rasse anzugehören. Einmal nahm er Mister Singer mit auf seine Krankenbesuche. Er führte ihn durch kalte, enge Gässchen, in denen es nach Schmutz und Krankheit und nach gebratenem Speck roch. Er zeigte ihm eine gelungene Hautverpflanzung bei einer Patientin, die eine schwere Verbrennung im Gesicht davongetragen hatte. Er behandelte ein syphilitisches Kind und zeigte Mister Singer den schuppigen Hautausschlag auf den Handflächen, den verschleierten Augapfel und die schiefen

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