Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
um das Essen hinunterzuspülen.
»Sei doch nicht so gierig. Wird dir schon niemand was wegschnappen.«
Die Kleinen lungerten noch vor dem Haus herum. Bubber hatte seine Schleuder in die Tasche gesteckt und spielte mit dem Gewehr. Spareribs war zehn Jahre alt; sein Vater, dem das Gewehr gehört hatte, war vor einem Monat gestorben. Die Kleinen stritten sich darum. Alle paar Minuten legte Bubber das Gewehr an die Schulter, zielte und schrie: »Puh!«
»Du sollst nicht immer am Abzug rumfummeln«, sagte Spareribs. »Das Gewehr ist geladen.«
Mick aß ihren Maiskuchen auf und überlegte, was sie tun sollte. Harry Minowitz saß mit der Zeitung auf der Verandabrüstung. Sie freute sich, ihn zu sehen. Aus Spaß hob sie den Arm und rief »Heil!« zu ihm hinüber.
Aber Harry verstand heute keinen Spaß. Er ging in die Diele und schloss die Tür hinter sich. Er war sehr schnell verletzt. Es tat ihr leid, denn bis vor kurzem waren sie und Harry richtig gute Freunde gewesen. Als Kinder waren sie in derselben Bande gewesen, aber vor drei Jahren kam er auf die Highschool; da war sie noch in der Grundschule. Außerdem ging er nebenbei noch arbeiten. Er wurde auf einmal erwachsen und spielte nicht mehr mit den Kindern auf der Straße. Manchmal sah sie ihn in seinem Schlafzimmer Zeitung lesen oder wie er sich spätabends auszog. In Mathematik und Geschichte war er der Beste. Seitdem sie auch in der Highschool war, gingen sie öfter zusammen nach Hause. Sie waren in derselben Technikklasse, und einmal hatten sie zusammen einen Motor gebaut. Er las Bücher und außerdem täglich die Zeitung. Ständig hatte er die Weltpolitik im Kopf. Er sprach langsam, und wenn ihm eine Sache sehr am Herzen lag, trat ihm der Schweiß auf die Stirn. Und jetzt hatte sie ihn beleidigt.
»Ob Harry wohl noch sein Goldstück hat?«, fragte Spareribs.
»Was für ’n Goldstück?«
»Wenn ein Judenjunge geboren wird, legen sie für ihn ein Goldstück auf die Bank. Das ist so bei den Juden.«
»Quatsch mit Soße! Das verwechselst du«, sagte sie. »Du meinst die Katholiken. Die kaufen für jedes Baby, das geboren wird, ’ne Pistole. Denn die Katholiken wollen eines Tages Krieg machen und alle andern umbringen.«
»Bei Nonnen hab ich immer so ’n komisches Gefühl«, sagte Spareribs. »Ich hab richtig Angst, wenn ich eine auf der Straße seh.«
Sie setzte sich auf die Stufen und legte den Kopf auf die Knie. Sie ging jetzt in die ›innere Welt‹. Für sie gab es zwei Welten – eine innen und eine außen. Schule und Familie und alles, was so täglich passierte, gehörten in die Welt draußen. Mister Singer war in beiden Welten. Fremde Länder, ihre Pläne und die Musik waren in der inneren Welt. Auch die Lieder, die sie im Kopf hatte, gehörten dorthin. Und die Sinfonie. Wenn sie allein in der inneren Welt war, kam die Musik, die sie in der Nacht nach der Party gehört hatte, zu ihr zurück. Die Sinfonie blühte langsam wie eine große Blume in ihr auf. Manchmal fiel ihr plötzlich mitten am Tag oder morgens beim Aufstehen ein weiteres Stück der Sinfonie ein. Dann musste sie in die innere Welt hineingehen, musste lange lauschen und versuchen, das Neue mit den Teilen zusammenzufügen, die schon da waren. Die innere Welt war etwas ganz Privates. Sie konnte im Haus unter lauter Menschen sein und sich doch so fühlen, als sei sie ganz allein.
Spareribs hielt ihr seine schmutzige Hand vor die Augen, weil sie ein Loch in die Luft gestarrt hatte. Sie gab ihm eine Ohrfeige.
»Was ist eine Nonne?«, fragte Bubber.
»’ne katholische Dame«, sagte Spareribs. »’ne katholische Dame mit einem weiten, schwarzen Kleid, das ihr bis über den Kopf reicht.«
Sie hatte es satt, bei den Kindern herumzusitzen. Sie wollte in die Bibliothek gehen und die Bilder im National Geographic anschauen. Fotografien von all den fremden Gegenden – von Paris und Frankreich. Und große Eisgletscher. Und die wilden Dschungel in Afrika.
»Passt auf, dass Ralph nicht auf die Straße fällt«, sagte sie.
Bubber schulterte das große Gewehr. »Bring mir ’ne Geschichte mit.«
Der Kleine war zum Lesen geboren worden. Er war erst in der zweiten Klasse, las aber wahnsinnig gern Geschichten und bat nie jemanden darum, ihm etwas vorzulesen. »Was für eine willst du denn?«
»Such ein paar raus, wo was zu essen vorkommt. Ich hab die so gern, wo die deutschen Kinder in den Wald gehn und an das Haus von der Hexe kommen, das aus lauter Bonbons gemacht ist. Geschichten mit Essen
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