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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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Fußende des Bettes; hin und wieder beugte er sich vor, um sich aus der Flasche auf dem Fußboden einzuschenken. Singer saß am Fenstertisch und spielte Schach. Jake war jetzt etwas ruhiger. Er sah seinem Freund beim Spiel zu und fühlte, wie der milde, ruhige Nachmittag allmählich in den dunklen Abend überging. Die Ofenglut warf lautlos tanzende Schatten an die Zimmerwände.
    Aber abends überkam ihn wieder diese Anspannung. Singer hatte seine Schachfiguren fortgepackt; sie saßen einander gegenüber. Jake fühlte seine Lippen krampfhaft zucken; er trank, um sich zu beruhigen. Noch einmal ergriff ihn eine Welle von Unruhe, ein große Sehnsucht. Er stürzte den Whisky hinunter und begann wieder zu sprechen. Die Worte stiegen in ihm auf und strömten aus seinem Mund. Er ging vom Fenster zum Bett und wieder zurück – immer wieder hin und zurück. Schließlich formte sich der Wortschwall, und nun redete er mit trunkenem Pathos zu dem Taubstummen:
    »Was die uns alles angetan haben! Alle Wahrheiten haben sie in Lügen verwandelt! Alle Ideale haben sie besudelt und schlechtgemacht. Nimm zum Beispiel Jesus. Der war einer von uns. Der war ein Wissender. Er hat gesagt, es wär leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher ins Himmelreich kommt – und da hat er verdammt genau gewusst, was er sagte. Aber sieh dir bloß an, was die Kirche mit Jesus gemacht hat in den letzten zweitausend Jahren. Was die aus ihm gemacht haben! Jedes Wort, das er gesprochen hat, haben sie für ihre gemeinen Zwecke verdreht. Wenn Jesus heute leben würde – er wäre verfemt und säße im Gefängnis. Jesus – der wär wirklich ein Wissender. Ich und Jesus, wir würden uns an einen Tisch setzen, ich würde ihn ansehn, er würde mich ansehn, und wir würden beide wissen, dass der andere ein Wissender ist. Ich und Jesus und Karl Marx, wir könnten alle an einem Tisch sitzen und…
    Und sieh dir an, was aus unserer Freiheit geworden ist. Die Männer, die die amerikanische Revolution gemacht haben, die hatten mit den Tanten von diesem patriotischen Frauenladen D.A.R. genauso viel zu tun wie ich mit einem dickbäuchigen, parfümierten Schoßhündchen. Wenn die Freiheit sagten, meinten sie’s auch. Die haben richtig Revolution gemacht. Die haben für die Freiheit und Gleichheit der Menschen in diesem Land gekämpft. Ja! Das heißt nämlich, dass von Natur aus alle Menschen gleich sind – dass alle die gleiche Chance haben. Das heißt nicht, dass zwanzig Prozent der Bevölkerung die Freiheit haben, den andern achtzig Prozent die lebensnotwendigsten Dinge zu rauben. Das heißt nicht, dass ein Reicher aus zehntausend Armen den letzten Tropfen rauspressen darf, um noch reicher zu werden. Das heißt nicht, dass die Tyrannen ungestraft ein Land so aussaugen dürfen, dass Millionen Menschen bereitwillig alles tun – lügen und betrügen oder sich den rechten Arm abhacken lassen –, bloß damit sie für einen Hungerlohn schuften dürfen. Sie haben das Wort Freiheit beschmutzt. Verstehst du? Sie haben’s erreicht, dass für alle Wissenden das Wort Freiheit stinkt!«
    Die Ader auf Jakes Stirn zuckte wild. Sein Mund arbeitete krampfhaft. Singer richtete sich beunruhigt auf. Jake wollte weitersprechen, aber die Worte blieben in seinem Mund stecken. Ein Schauer überlief seinen Körper. Er setzte sich auf den Stuhl und presste die Finger gegen die zitternden Lippen. Dann sagte er heiser:
    »So steht’s, Singer. Wütend sein ist zwecklos. Was wir auch machen, nichts taugt etwas. So kommt’s mir wenigstens vor. Wir können nichts weiter tun, als von einem zum andern gehn und die Wahrheit sagen. Und wenn genügend Unwissende diese Wahrheit begriffen haben, müssen wir überhaupt nicht mehr kämpfen. Wir haben nichts weiter zu tun, als es ihnen weiterzugeben. Weiter nichts. Aber wie? Ja, wie?«
    Die Schatten züngelten an den Wänden empor. Immer höher stiegen die dunklen Schattenwogen, und das Zimmer begann zu schwanken. Es stieg und fiel, alles geriet aus dem Gleichgewicht. Jake fühlte, wie er mutterseelenallein hinabsank, langsam immer tiefer, in Wellenbewegungen, abwärts, in einen Ozean von Schatten. In hilflosem Entsetzen riss er die Augen auf, aber er konnte nichts sehen, nur die dunklen Glutwellen, die gierig über ihm zusammenschlugen. Schließlich fand sein Blick das, was er gesucht hatte, weit weg und verschwommen: das Gesicht des Taubstummen. Jake schloss die Augen.
    Am nächsten Morgen erwachte er sehr spät. Singer

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