Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
war schon vor Stunden fortgegangen. Auf dem Tisch fand er Brot, Käse, eine Orange und eine Kanne Kaffee. Als er gefrühstückt hatte, war es Zeit, zur Arbeit zu gehen. Mit hängendem Kopf ging er durch die Stadt, zu seinem Zimmer. Nicht weit von seinem Hause kam er durch eine enge Straße, in der ein Lagerhaus aus rußschwarzen Ziegeln stand. An der Mauer dieses Gebäudes war etwas, das ihm irgendwie auffiel. Er wollte weitergehen, aber seine Neugier war geweckt. An der Mauer stand in dicken, merkwürdig geformten Buchstaben mit roter Kreide geschrieben:
Ihr sollt das Fleisch der Mächtigen essen und das Blut der Fürsten dieser Erde trinken.
Er las zweimal und sah sich ängstlich nach allen Seiten um. Niemand war zu sehen. Nach einigen Minuten verwirrten Nachdenkens zog er einen dicken Rotstift aus der Tasche und schrieb sorgfältig darunter:
Wer Obiges geschrieben hat, trifft mich morgen um 12 Uhr hier an dieser Stelle. Donnerstag, den 29. November. Oder übermorgen.
Am nächsten Tag war er um zwölf Uhr an der Mauer und wartete. Ab und zu lief er ungeduldig zur Ecke vor, um nach beiden Seiten die Straße hinabzublicken. Niemand kam.
Nach einer Stunde musste er wieder zum Rummelplatz.
Auch am nächsten Tag wartete er dort.
Am Freitag regnete es – ein gleichmäßig-träger Winterregen. Die Mauer war schon ganz nass, und die Schrift lief aus, kein Wort war mehr lesbar. Es regnete weiter – grau, kalt und hart.
5
»Mick«, sagte Bubber, »ich glaub, allmählich ersaufen wir alle.«
Wirklich – es sah so aus, als wollte es nie wieder aufhören zu regnen. Mrs. Wells fuhr sie in ihrem Wagen zur Schule und wieder zurück, und nachmittags mussten sie auf der Veranda bleiben. Mick und Bubber spielten Brett- oder Kartenspiele oder mit Murmeln auf dem Teppich im Wohnzimmer. Weihnachten rückte näher, und Bubber phantasierte bereits vom lieben Jesuskind und von dem roten Fahrrad, das ihm der Weihnachtsmann bringen sollte. Der Regen rann silbern die Fensterscheiben hinab, und der Himmel war nasskalt und grau. Der Fluss stieg derart, dass manche Fabrikarbeiter ihre Häuser räumen mussten. Dann – gerade als es so schien, als würde es immer und ewig so weiterregnen, hörte es plötzlich auf. Eines Morgens erwachten sie bei strahlendem Sonnenschein. Nachmittags war es fast sommerlich warm. Mick kam spät aus der Schule heim und traf Bubber, Ralph und Spareribs vor dem Haus. Die Kinder sahen erhitzt und klebrig aus, und ihre Wintersachen rochen säuerlich. Bubber hatte seine Schleuder bei sich und die Tasche voller Kieselsteine. Ralph saß mit verrutschter Mütze und missmutiger Miene in seinem Wagen. Spareribs hatte sein neues Gewehr mitgebracht. Der Himmel war wunderbar blau.
»Wir haben auf dich gewartet, Mick«, sagte Bubber. »Wo warst du denn so lange?«
Sie sprang, drei Stufen auf einmal nehmend, die Vordertreppe hinauf und warf ihren Pullover auf den Garderobenständer. »Ich hab Klavier geübt, in der Turnhalle.«
Nach der Schule spielte sie jetzt jeden Tag Klavier. Die Turnhalle war voll und lärmig, weil das Mädchenteam dort Basketball spielte. Heute hatte sie zweimal den Ball an den Kopf bekommen. Aber dafür, dass man am Klavier sitzen durfte, nahm man gern einiges in Kauf. Sie setzte die Töne zu Akkorden zusammen, bis es so klang, wie sie wollte. Es war leichter, als sie gedacht hatte. Nach den ersten zwei oder drei Stunden fand sie zu der Melodie, die sie mit der rechten Hand spielte, die passenden Bassakkorde. Sie konnte jetzt fast alle Stücke nachspielen. Außerdem machte sie neue Musik. Das war besser, als die Melodien bloß nachzuspielen. Wenn ihre Hände nach den schönen, neuen Klängen suchten – das war das herrlichste Gefühl, das sie je empfunden hatte.
Sie wollte die Musik, die aufgeschrieben war, lesen lernen. Delores Brown hatte seit fünf Jahren Musikunterricht. Sie gab Delores ihr wöchentliches Essensgeld von fünfzig Cent, und Delores gab ihr dafür Unterricht. Dafür hatte sie jetzt den ganzen Tag über Hunger. Delores spielte viele sehr schnelle Stücke – aber all das, was sie wissen wollte, konnte sie ihr nicht beantworten. Delores brachte ihr nur die verschiedenen Tonarten bei, die Dur- und Mollakkorde, die Notenwerte und andere Anfängerregeln.
Mick knallte die Tür zum Ofen zu. »Weiter gibt’s nichts zu essen?«
»Herzchen, mehr kann ich nicht für dich tun«, sagte Portia.
Maiskuchen und Margarine – weiter nichts. Sie trank ein Glas Wasser dazu,
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