Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
oben ein Baumhaus gebaut hatten. Sie hatten eine große Kiste hinaufgezogen, und dieses Baumhaus war immer Bubbers Lieblingsplatz gewesen. Mick ließ ihre Familie und die Mieter auf der Veranda zurück und ging durch das Seitengässchen in den dunklen Hof.
Eine Weile blieb sie unter dem Baum stehen. »Bubber…«, rief sie leise. »Ich bin’s, Mick.«
Er antwortete nicht, aber sie wusste, dass er da oben war. Sie konnte ihn riechen. Sie schwang sich auf den untersten Ast und kletterte langsam hinauf. Sie hatte eine riesige Wut auf den Kerl – dem würde sie eine Lektion erteilen. Als sie das Baumhaus erreicht hatte, rief sie ihn noch einmal – wieder keine Antwort. Sie kroch in die große Kiste hinein und tastete die Wände ab. Schließlich fühlte sie ihn. Er kauerte in einer Ecke; seine Beine schlotterten. Er hatte die Luft angehalten, und als sie ihn anfasste, keuchte und schluchzte er auf einmal.
»Ich… ich wollte Baby nicht umlegen. Sie war einfach so klein und niedlich – da musst ich einfach abdrücken.«
Mick setzte sich auf den Boden der Hütte. »Baby ist tot«, sagte sie. »Ein ganzer Haufen Leute sucht dich.«
Bubber hörte auf zu weinen. Er war ganz still.
»Weißt du, was Papa jetzt zu Hause macht?«
Sie konnte fast hören, wie Bubber lauschte.
»Du weißt doch, wer Direktor Lawes ist – du hast ihn im Radio gehört. Der Direktor von Sing Sing. Und was Sing Sing ist, weißt du auch. Also – unser Vater schreibt grad einen Brief an Direktor Lawes, er soll dich doch ein bisschen sanft behandeln, wenn du verhaftet wirst und nach Sing-Sing kommst.«
Das alles klang im Dunkeln so fürchterlich, dass es sie selber grauste. Sie spürte, wie Bubber zitterte.
»Da haben sie kleine elektrische Stühle – genau in deiner Größe. Und wenn der Strom eingeschaltet wird, dann schrumpelst du zusammen wie verbrannter Speck. Und dann fährst du zur Hölle.«
Bubber drückte sich mucksmäuschenstill in seine Ecke. Sie kroch wieder aus der Kiste, um hinunterzusteigen. »Bleib lieber hier oben, die Polizei hat nämlich den Hof umstellt. Vielleicht kann ich dir in ein paar Tagen was zu essen bringen.«
Mick lehnte sich an den Eichenstamm. Das würde Bubber eine Lehre sein. Sie war noch immer mit ihm fertiggeworden, sie kannte ihn besser als alle anderen. Einmal, vor ein oder zwei Jahren, wollte er sich ständig ins Gebüsch verdrücken, um zu pinkeln und ein bisschen an sich rumzuspielen. Das hatte sie rasch spitzgekriegt. Sie gab ihm jedes Mal eins hinter die Ohren, und nach drei Tagen war er kuriert. Von da an pinkelte er nie mehr wie andere Jungen, sondern hielt dabei die Hände auf den Rücken. Sie hatte sich immer um Bubber kümmern müssen, und sie war immer mit ihm fertiggeworden. Nach einer Weile würde sie wieder zum Baumhaus hinaufklettern und ihn holen. Der würde wohl in seinem ganzen Leben kein Gewehr mehr anfassen.
Im Haus herrschte immer noch Totenstille. Alle Mieter saßen auf der Veranda; sie unterhielten sich nicht, auch die Schaukelstühle standen still. Ihr Papa und ihre Mama waren im Vorderzimmer. Ihr Papa trank Bier aus der Flasche und wanderte auf und ab. Baby würde wieder gesund werden, um die brauchte man sich also nicht zu sorgen. Auch um Bubber schien sich niemand zu ängstigen. Es ging um etwas anderes.
»Dieser Bubber!«, sagte Etta.
»Ich schäm mich, vor die Tür zu gehn«, sagte Hazel.
Etta und Hazel gingen ins Nebenzimmer und schlossen die Tür hinter sich. Bill war hinten in seinem Zimmer. Sie hatte keine Lust, mit ihnen zu reden. Sie stand in der Diele herum und dachte nach.
Ihr Papa blieb stehen. »Es war Absicht«, sagte er. »Der Bengel hat nicht einfach bloß mit dem Gewehr gespielt, das dann zufällig losgegangen ist. Alle sagen, er hat absichtlich auf sie gezielt.«
»Wann wir wohl von Mrs. Wilson hören werden«, sagte ihre Mama.
»Wir werden noch mehr als genug von ihr hören.«
»Das werden wir bestimmt.«
Jetzt nach Sonnenuntergang war es wieder kalt wie im November. Die Leute kamen von der Veranda herein und setzten sich ins Wohnzimmer – aber niemand machte Feuer. Mick nahm ihren Pullover von der Garderobe, sie schlüpfte hinein und zog die Schultern hoch. Sie dachte an Bubber, der draußen in dem kalten, dunklen Baumhaus saß. Er hatte ihr wirklich jedes Wort geglaubt. Aber es geschah ihm recht, ein bisschen Angst zu haben. Um ein Haar hätte er Baby getötet.
»Mick, kannst du dir gar nicht denken, wo Bubber sein könnte?«, fragte ihr
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