Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
unserer Hände Arbeit erhalten. Diese Wahrheit von Karl Marx müssen wir immer im Herzen tragen – wir dürfen sie nicht vergessen.
Wir aber, meine Brüder hier in diesem Raum – wir Neger haben noch eine andere Mission, die uns allein vorbehalten ist. Wir haben es in uns, das eine große, wahre Ziel, und wenn wir dieses Ziel nicht erreichen, dann sind wir für immer verloren. Wir wollen also einmal sehen, wie diese besondere Mission beschaffen ist.«
Doktor Copeland lockerte seinen Hemdkragen, denn die Kehle wurde ihm eng. Der Kummer und die Liebe in seinem Herzen waren zu groß. Er warf einen Blick über seine schweigenden Gäste. Sie warteten. Die Gruppen im Hof und auf der Veranda lauschten ebenso regungslos-aufmerksam wie die Menschen im Zimmer. Ein schwerhöriger alter Mann beugte sich vor und hielt die Hand ans Ohr. Eine Frau beruhigte ihr quengelndes Kind mit einem Schnuller. Mister Singer stand gespannt lauschend an der Tür. Die meisten jungen Leute saßen auf dem Fußboden, unter ihnen auch Lancy Davis. Seine Lippen waren bleich und zuckten nervös. Er hatte die Knie ganz fest mit den Armen umfasst; sein junges Gesicht hatte einen finsteren Ausdruck. Alle Augen waren auf Doktor Copeland gerichtet, und aus ihnen sprach der Hunger nach Wahrheit.
»Heute soll der Fünf-Dollar-Preis an denjenigen Schüler der höheren Schule verliehen werden, der den besten Aufsatz über das Thema: ›Mein höchstes Ziel: Die Verbesserung der Stellung der Negerrasse in der menschlichen Gesellschaft‹ geschrieben hat. Den Preis erhält in diesem Jahr Lancy Davis.« Doktor Copeland zog einen Briefumschlag aus der Tasche. »Ich brauche euch nicht zu sagen, dass der eigentliche Wert dieses Preises nicht in der Geldsumme liegt, sondern in dem heiligen Glauben und in dem Vertrauen, die ihn begleiten.«
Lancy stand unbeholfen da. Seine mürrisch aufgeworfenen Lippen zitterten. Mit einer Verbeugung nahm er den Preis entgegen. »Wünschen Sie, dass ich meinen Aufsatz vorlese?«
»Nein«, sagte Doktor Copeland. »Aber komm bitte in dieser Woche bei mir vorbei, dann wollen wir uns darüber unterhalten.«
»Ja, Sir.« Wieder wurde es still im Zimmer.
»›Ich will kein Dienstbote sein!‹ Diesen Wunsch habe ich immer wieder in den eingereichten Aufsätzen gelesen. Dienen? Unter tausend von uns ist es nur einem erlaubt, wirklich zu dienen. Wir arbeiten ja nicht! Wir dienen ja nicht!«
Einige Gäste lachten verlegen.
»Hört zu! Auf fünf von uns kommt einer, der schwere Arbeit beim Straßenbau oder bei der Kanalisation der Stadt verrichtet, der in einem Sägewerk oder auf einer Farm arbeitet. Ein Zweiter von diesen fünfen findet überhaupt keine Arbeit. Was aber tun die restlichen drei von diesen fünfen – die Mehrzahl unseres Volkes? Viele von uns kochen für Leute, die unfähig sind, sich ihr Essen selber zuzubereiten. Viele tun ihr Leben lang nichts, als zum Privatvergnügen von ein oder zwei Menschen einen Blumengarten zu pflegen. Andre polieren die gebohnerten Fußböden eleganter Häuser, oder sie fahren die Autos reicher Leute, die zu faul sind, selber zu fahren. Wir verbringen unser Leben damit, tausenderlei Dinge zu tun, die für keinen Menschen von echtem Nutzen sind. Wir mühen und plagen uns, und all unsere Mühe und Plage ist vergeudet. Heißt das Dienen? Nein, das nenne ich Sklaverei.
Wir arbeiten wohl, aber wir vergeuden unsere Arbeit. Man erlaubt uns nicht zu dienen. Ihr Schüler, die ihr hier sitzt, ihr seid die wenigen vom Glück Begünstigten unserer Rasse. Die meisten von uns können überhaupt keine Schule besuchen. Jedem von euch steht ein Dutzend junger Menschen gegenüber, die kaum ihre Namen schreiben können. Man hält uns nicht für würdig, zu lernen und Wissen zu erwerben.
›Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.‹ Wir alle hier wissen, was es heißt, echte Not zu leiden. Das ist eine große Ungerechtigkeit. Aber es gibt eine noch schlimmere Ungerechtigkeit: Wenn einem das Recht, nach seinen Fähigkeiten zu arbeiten, verweigert wird. Wenn man ein Leben lang unnütze Arbeit verrichten muss. Wenn einem die Möglichkeit zum Dienen genommen wird. Wenn die Reichen uns unseres geistigen und seelischen Reichtums berauben; das ist viel schlimmer, als wenn sie uns das Geld nehmen.
Einige von euch jungen Menschen fühlen sich vielleicht dazu berufen, Lehrer, Krankenschwester oder Führer unserer Leute zu werden. Den meisten unter euch wird das verwehrt sein. Ihr werdet euch,
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